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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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können.
    Sally räumte den Koffer weg, öffnete die Fenster, um zu lüften, und warf das Tuch über die Schießscheibe. Kühle Herbstluft strömte ins Zimmer. Dann nahm sie, wie es manchmal vorkam, eine Zigarette aus Jims Dose auf dem Sideboard, setzte sich hin und rauchte. Sie schmunzelte darüber, dass sie das Zimmer wegen des Pulvergeruchs erst gelüftet hatte und es gleich darauf mit Zigarettenqualm erneut verräucherte.
    Zerstreut blätterte sie die Zeitungen durch. In den Illustrated London News stand nichts über die Ausschreitungen in Russland, aber im Jewish Chronicle fand sie zu ihrer Verwunderung einen Artikel von Daniel Goldberg. Sie war der Auffassung gewesen, der Jewish Chronicle habe nicht unbedingt Sympathie für die Linken. Und Goldberg hatte sie für einen Agitator oder Demagogen gehalten. Doch in diesem Artikel zeigte er sich besonnen und vernünftig. Er vertrat die Meinung, man müsse das Problem der jüdischen Immigration als Teil der sozialen Frage sehen, die die Beziehungen aller Männer und Frauen untereinander im Rahmen der herrschenden Verhältnisse betreffe.
    Der Mann konnte schreiben, sein Stil war flüssig, seine Argumentation klar und überzeugend, wie Sally etwas widerwillig zugeben musste.
    Der letzte Absatz lautete:
     
    Eine Bürde, die den anderen Arbeitern erspart bleibt, müssen die Juden allein deshalb auf sich nehmen, weil sie Juden sind. Ich denke an Mr Arnold Fox und seine Umtriebe. Dieser Gentleman sammelt in seinem antisemitischen Eifer alles, was ihm Informationen über die massenhafte Einwanderung von Juden aus Russland liefern könnte. Mit Sicherheit wird er jeden Hinweis, den er seiner übersteigerten Fantasie zu verdanken hat, dazu verwenden, alle Juden in den Augen der Bürger Englands zu diskreditieren. Daher sollten wir tunlichst vermeiden, ihm zusätzliche Argumente in die Hand zu spielen. Ich schreibe dies in der festen Zuversicht, dass alle jüdischen Ausbeuter, die den Chronicle lesen, sogleich die Löhne ihrer Arbeiter verdreifachen und deren Arbeitszeit halbieren werden, nur um Mr Fox eines Besseren zu belehren. Das ist die Macht der Presse.
     
    Sally schmunzelte und legte die Zeitung beiseite. Sie wusste nur wenig über Ausbeutungsbetriebe.
    Angeblich mussten sich Lohnabhängige in krank machenden Verhältnissen zu Hungerlöhnen abplagen. In welchen Branchen gab es so etwas? Im Schneiderhandwerk? In der Möbel- oder Schuhherstellung? Gewiss, solche Auswüchse verdienten harsche Kritik, aber dahinter musste doch mehr stecken als die Bosheit und die Habgier der Fabrikbesitzer, wie Goldberg zu unterstellen schien.
    Sally schaute auf die Schweizer Uhr auf dem Kaminsims. Halb zehn; müde war sie eigentlich noch nicht, aber sie würde dennoch zu Bett gehen und einen von Jims Schauerromanen lesen.
    Sie stand auf, um eines der Oberfenster zu öffnen, da immer noch Pulvergeruch im Zimmer hing.
    Beim Aufziehen der Vorhänge hörte sie das Geräusch von splitterndem Glas.
    Es kam irgendwo von links, wo sich das gläserne Schutzdach für Websters fahrbare Kamera befand.
    Im Fenster spiegelte sich das erleuchtete Zimmer, daher zog sie rasch den Vorhang hinter sich zu, so dass sie nun zwischen ihm und der Fensterscheibe stand. Noch einmal war das Splittern von Glas zu hören. Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie eine Gestalt – einen Jungen – auf der Mauer über dem Schutzdach hocken. Der Junge hob den Arm, als wollte er einen Stein werfen.
    Dann warf er tatsächlich und Augenblicke später hörte Sally Glasscherben auf Dielenbretter fallen, gefolgt von einem schrillen Lachen. Der Junge blickte zum Himmel und lief wieder ein paar Schritte auf der Mauer bis zur nächsten Glasscheibe.
    Sally eilte ins Zimmer zurück, holte die Lampe und stieß die Fenstertür auf. »Stopp!«, rief sie. »Sofort aufhören!«
    Ein schrilles Lachen und der Junge schleuderte wieder einen Stein gegen das Glasdach. Dann nahm er einen Stock und begann wie rasend gegen die Scheiben zu schlagen, dass die Glasscherben nur so hinabprasselten.
    Sally trat auf die Veranda und lief, die Lampe in der Hand, hinunter auf den nassen Rasen.
    »Aufhören!«, rief sie wieder. »Komm da runter!«
    Der Junge stand aufrecht und schüttelte sich vor Lachen. Dann hüpfte er auf der Mauer entlang. Sally beschlich ein Gefühl der Angst: Etwas Unheimliches lag in diesem Lachen. Es war, als käme es von einem Geisteskranken oder von einem Dämon, irgendeinem Geist. Nein, sagte sie zu

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