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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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lassen? Schließlich hatte er alles lange im Voraus geplant. Und hätte er die Ehe noch vor der Heirat mit Charles angefochten oder hätte er gewartet, so dass Sally schließlich als Bigamistin dagestanden hätte?
    Es wäre grässlich gewesen, aber Charles hätte ihr vertraut. Und Mr Temple wäre auch noch am Leben gewesen. Selbst wenn Parrish damals behauptet hätte, Harriet sei sein Kind, wären ihre Chancen gegen ihn besser gewesen.
    Aber sie hatte Charles’ Antrag abgelehnt und es hatte keinen Sinn, dass sie sich jetzt wünschte, sie hätte es nicht getan. Die Dinge waren nun einmal so, wie sie waren.
    Sie nahm die Fotografie und Harriets Bauklötze sowie ein paar andere Sachen und brachte alles in ihr Zimmer. Dann holte sie den Lederkoffer von ihrem Kleiderschrank und trug ihn nach unten. Dort schaute sie in die Küche, wo Mrs Perkins mit der Katze auf dem Schoß Zeitung las.
    »Ach, Miss Lockhart«, sagte die Köchin. »Ellie hat mir gesagt, Sie hätten nach dem Scherenschleifer gefragt.«
    »Ja, ich glaube nämlich nicht, dass er tatsächlich einer ist. Er wird wohl nicht wiederkommen, aber falls doch, dann möchte ich ihn erwischen – ich meine, ihn sehen, ohne dass er darauf gefasst ist. Mrs Perkins, ich wollte Ihnen eigentlich nur sagen, dass ich noch ein paar Schießübungen mache. Also erschrecken Sie nicht, wenn es knallt.«
    »Sehr aufmerksam von Ihnen, Miss. Jetzt weiß ich Bescheid.«
    Im Frühstückszimmer, das jetzt aufgeräumt und fast karg aussah, klappte sie eine breite schwere Scheibe auseinander, die mit einem grünen, gemusterten Stoff bespannt war, und stellte sie an der gegenüberliegenden Wand auf. Sie zog den Stoff ab und faltete ihn auf dem Tisch zusammen. Die Scheibe bestand aus weichem Holz, in dem Dutzende kleiner Löcher zu sehen waren. Daran befestigte sie eine papierne Zielscheibe, richtete die Lampe so aus, dass die Scheibe gut beleuchtet wurde, und öffnete den Lederkoffer.
    Er enthielt eine Übungswaffe, ein einschüssiges französisches Fabrikat, Marke Flaubert. Mit der schönen, leicht zu bedienenden Pistole hatte sie oft zusammen mit Jim oder Charles ein Wettschießen veranstaltet. Sie schoss besser als die beiden jungen Männer, aber an Webster kam sie nicht heran, obwohl er das Schießen erst von ihr gelernt hatte. Seine Hand war so sicher wie sein Auge. Damals war das Schießen auf Zielscheiben richtig Mode geworden. Die leichten Waffen, die dabei benutzt wurden, hießen Salonpistolen, nach den Räumen, in denen sie häufig benutzt wurden. Eine gute Pistole wie ihre Flaubert schoss auf zehn Meter mit hinreichender Präzision. Mehr war nicht erforderlich und außerdem machte sie nicht viel Lärm.
    Sally schob einen Sessel beiseite, lud die Pistole und gab einen Schuss ab. Daneben, zu weit links. Nicht schlimm. Das hier war eine Aufgabe, mit der sie umgehen konnte, und sie besaß das erforderliche Werkzeug.
    Sie übte weiter, ließ sich Zeit, reinigte ab und zu die Pistole und hatte nach einer halben Stunde eine Schachtel mit fünfzig Patronen verbraucht. Gegen Ende fühlte sie sich sehr viel besser. Sie hatte ihren Rhythmus gefunden: Die Einschüsse konzentrierten sich nahe dem Mittelpunkt.
    Ehe Sally die Schießscheibe wieder wegräumte, wollte sie noch den neu erworbenen Revolver ausprobieren.
    Verglichen mit der eleganten Übungspistole war der British Bulldog ein hässliches schweres Schießeisen. Sie steckte eine Patrone in die Trommel, hielt in Erwartung des Rückstoßes den Revolver sehr fest und zielte etwas tiefer, wie ihr der Verkäufer geraten hatte.
    Dann drückte sie ab. Der Schuss war so laut, dass die Fensterscheiben erzitterten. Ihr Handgelenk schmerzte, als hätte ein Pferd sie getreten. Das war die Quittung für die Aufschneiderei. Von wegen, sie habe Übung mit solchen Waffen. Die Schießscheibe, die ohne Schaden fünfzig Schuss Übungsmunition überstanden hatte, war nun von oben bis unten gespalten.
    Sie legte den Revolver weg und schüttelte ihren Arm. Blinzelnd, denn noch hingen Pulverschwaden im Zimmer, ging Sally zur Zielscheibe. Die Kugel war durch das Holz gedrungen und in der Wand stecken geblieben. Immerhin hatte sie ziemlich genau ins Schwarze getroffen, dachte sie. Sie stellte die Scheibe weg und legte den Revolver in den Koffer. Jetzt hatte sie die Gewissheit, mit dieser Waffe eine verheerende Wirkung erzielen zu können. Aber beim nächsten Mal würde sie zum Abfeuern beide Hände benutzen. Sie hätte sich das Handgelenk brechen

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