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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Fleet Street am Ärmel zupfte.
    Ihr erster Gedanke war, dass es nur ein Bettler sein könne. Sie drehte sich um und suchte reflexartig nach ihrer Geldbörse, um die lästige Person mit einer Münze rasch abzuspeisen.
    Doch die Gestalt, mit der sie es zu tun hatte, war ganz offensichtlich kein Bettler. Es war ein junger Mann mit einer tief ins Gesicht gezogenen Mütze, einem blau-weißen Tuch um den Hals und einem breiten messingbeschlagenen Gürtel, der den Bund seiner Manchesterhose hielt. Das, was sie von seinem Gesicht zu sehen bekam, war nicht eben sehr ermutigend: Bills bisherige Lebenserfahrungen hatten sich in düsteren Gesichtszügen niedergeschlagen.
    Sally sah ihn überrascht an und ihr Blick fiel auf die von Narben gezeichnete Hand, die noch immer auf ihrem Ärmel lag.
    »Miss Lockhart?«, sagte der Fremde zu ihrer größten Verwunderung. »Hören Sie. Ich weiß, wer Sie sind. Ein Typ will, dass – «
    Bills tiefe, raue Stimme, die vage Bedrohung, die von seiner Miene und Haltung ausging, alles das war zu viel für Sally. Sie riss sich los, griff stattdessen nach seinem Arm, zog den verdutzten jungen Mann in eine Ecke des Gate House und drängte ihn gegen die Mauer. Der Zorn verlieh ihr ungeahnte Kräfte. Ihr Angriff kam so unerwartet, dass Bill, überrascht wie er war, sich gar nicht wehrte. Ehe er wusste, wie ihm geschah, spürte er etwas Hartes an seinen Rippen. Er blickte hinunter und sah den matten Glanz eines vernickelten Revolvers.
    Sally stand so, dass ihr Körper sie gegen die Blicke der Passanten abschirmte. Sie wusste, was sie tat. Bill lief ein Schauer über den Rücken, als er merkte, dass die Waffe entsichert war. Eine Bewegung ihres Fingers am Abzug und er war tot. Sie hatte eine sichere Hand und ihrer Miene nach zu schließen, würde sie es sogar gerne tun.
    »Sagen Sie ihm«, sagte Sally, »wenn er mir auch nur den leisesten Anlass dazu gibt, jage ich ihm eine Kugel in den Leib. Das Gleiche gilt auch für seine Boten. Und für jeden, der in mein Haus einbricht. Also Hände weg, verstanden? Und lassen Sie mich fortan in Ruhe!«
    Sie sprach mit leiser, gespannter Stimme und der geballte Hass, der ihm aus ihren Augen entgegenschlug – schönen, dunklen Augen, wie man sie bei einer so blonden Frau nicht erwartet hätte – hielt ihn in Schach. So benahmen sich junge Damen normalerweise nicht. Sie trugen auch keine Schusswaffen und zeigten keine solch extremen Gefühle. Er blieb also still an der Mauer des Gate House stehen, bis der Revolver wieder verschwand, die junge Frau einen Schritt zurücktrat und gleich darauf von der Menge verschluckt wurde.
    »Sie war wie ein Tiger, Mr Goldberg, wie eine Raubkatze«, sagte Bill später. »Sie wollte nichts hören. Sie hätte mich, ohne mit der Wimper zu zucken, über den Haufen geschossen.«
    Es war am gleichen Abend zu später Stunde in einer düsteren Kneipe in der Nähe des Covent Garden. Goldberg, mit breitkrempigem Schlapphut und schwarzem Mantel, paffte eine Zigarre, die selbst den Kanalarbeitern am Nachbartisch Respekt einflößte.
    »Nichts zu machen«, sagte er knapp. »Und die Sache mit dem Einbruch?«
    Bill wiederholte, was Sally gesagt hatte.
    »Jemand bricht in ihr Haus ein und sie glaubt, es sei Parrish«, sagte Goldberg. »Dann hältst du sie auf der Straße an und wieder glaubt sie, es sei Parrish. Verständlich. Aber doch schade. Wir müssen den richtigen Augenblick abwarten.«
    »Wissen Sie, wo sie wohnt, Mr G? Wir könnten ihr Haus im Auge behalten.«
    »Nein, leider nicht. Ich habe einen Vorwand benutzt, um bei Parrishs Anwalt aufzukreuzen. In einem Moment, in dem mir der Kanzleischreiber den Rücken zukehrte, habe ich ein paar Papiere vom Schreibtisch abgestaubt und so bin ich auf ihren Fall gestoßen. Ich weiß nicht, Bill, aber die Sache stinkt irgendwie. Je mehr ich über Parrish weiß, desto widerwärtiger wird mir der Geselle. Heute hatten wir kein Glück. Beim nächsten Mal müssen wir es anders anstellen.«

 
Das Haus an der Gracht
     
     
    Am Wochenende nahm Goldberg Bill mit nach Amsterdam.
    Goldberg sollte auf einem Kongress der sozialistischen Parteien Hollands und Belgiens sprechen und an seine Rede wurden große Erwartungen geknüpft. Bill war noch nie in seinem Leben aus London herausgekommen. So hielt er sich immer nahe bei seinem Gönner, obgleich er sich weiterhin bemühte, den Eindruck eines hartgesottenen Burschen zu erwecken. Er sprach auch kein Deutsch, was Goldberg die meiste Zeit über tat. Er war von

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