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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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dann den Schnaps hinunter, wie er es bei dem anderen gesehen hatte. Das verschlug ihm den Atem und seine Augen tränten.
    »Du bist also ein Mitarbeiter des großen Goldberg?«, schmeichelte Cohn und schenkte ihm nach.
    »Ja … ab und zu arbeite ich für ihn.«
    »Und was für eine Arbeit ist das?«
    Bill überlegte, ob er ihnen von der Sache mit Mr Tubb erzählen dürfe. Wenn es Sozialisten waren, mussten sie wohl in Ordnung sein. Außerdem waren es Juden, folglich würden sie bestimmt nichts dagegen haben, dass das Mr Tubb abgeknöpfte Geld den jüdischen Flüchtlingen zur Verfügung gestellt wurde. Er leerte das zweite Glas (diesmal war der Schock geringer, doch auch jetzt hatte er noch keinen Geschmack daran gefunden) und blickte um sich. Goldberg diskutierte lautstark mit der jungen Frau; alle anderen waren außer Hörweite.
    »Letztes Mal habe ich einen Geldeintreiber abgezockt«, erzählte er. »In London gibt es einen Typ, Parrish heißt er, der macht Geld, indem er Juden ausbeutet. Außerdem hat er ein halbes Dutzend Häuser – Spielhöllen und Bordelle, wo sich die feinen Pinkel amüsieren. Wir dachten, es wäre nicht schlecht, ihn ein bisschen abzumelken. Volkssteuer nennt Mr Goldberg das. Er wird früher oder später in den Zeitungen über ihn schreiben und alles aufdecken. Neulich habe ich einen seiner Männer um dreihundert Pfund erleichtert. Ich hab ihn kurz mal ausgeknockt.«
    »Ausgeknockt?«, fragte Cohn. Die drei hörten ihm gespannt und, wie es Bill schien, beeindruckt zu.
    »Na ja, ich hab ihm eins über die Rübe gezogen und ihm die Moneten abgeknöpft. Die haben wir dann dem jüdischen Flüchtlingsheim gegeben.«
    »Ach so …«, sagte Cohn. Alle drei machten sehr interessierte Mienen.
    Der Mann namens Meyer sagte: »Du hast nichts gegen Gewalt. Das ist gut, das zeugt von Stärke.«
    »Wenn es für eine gerechte Sache ist«, sagte Bill einschränkend.
    »Versteht sich«, sagte Meyer. »Das meine ich auch. Aber sag mal, denken die anderen Genossen in London genauso wie du?«
    »Ja, manche«, sagte Bill. »Die Fenier zum Beispiel. Irische Jungs, die ich aus Lambeth kenne. Da komme ich nämlich her.«
    »Fenier?«, fragte Giuliani.
    Cohn sprach rasch in Jiddisch. Die Fenier waren Mitglieder eines irischen Geheimbundes, der unter Einsatz von Gewalt für die Unabhängigkeit Irlands eintrat. Giuliani nickte. Er ließ Bill nicht aus den Augen.
    Dann sagte Cohn: »Du kennst also Fenier?«
    »Ja, ich habe Freunde unter ihnen. Sie wissen, dass ich sie nicht verrate. Ich kenne eine Menge Iren, ich bin bei ihnen aufgewachsen.«
    »Und was denkt Mr Goldberg von deinen Feniern?«
    »Tja … wirklich über sie gesprochen habe ich nicht mit ihm. Er hat da seinen eigenen Standpunkt und den muss man respektieren.«
    »Klar, das tun wir alle«, sagte Cohn. »Aber andererseits muss er ja nicht alles wissen, oder? Was du über die Iren sagst, ist interessant, sehr interessant sogar. Ich würde gern einige kennenlernen.«
    »Ich könnte das übernehmen.«
    »Das würdest du machen? Ah, das wäre prima. Noch etwas …«
    Cohn schenkte ihm erneut ein. Bill schaute ihn an und wollte schon dankend ablehnen, aber das brachte er dann doch nicht über sich. Er legte den Ellbogen auf den Tisch und hörte aufmerksam auf das, was Cohn mit ruhiger Stimme über die Bedeutung der Gewalt zu sagen hatte. Meyer begnügte sich, hin und wieder eine geniale Zwischenbemerkung zu machen, während Giuliani an den Fingernägeln kaute. Ohne eine Miene zu verziehen, so, als sei er es gewohnt, trank Bill seinen Schnaps und lauschte Cohns Worten. Bill hatte das Gefühl, es würde sich ihm eine neue Welt erschließen. Als hätte er plötzlich Zugang zu einer ganz neuen Sprache, ohne dass er sie erst mühsam erlernen musste. »Die Theorie der … Die Bedeutung, die dahintersteht … Gewalt kann absolut und ein Wert an sich sein …« Und er lernte einen neuen Begriff: Terrorismus. Ihn durchströmte ein Gefühl, das er als freudige Erregung erkannte. Cohn redete und redete, über Nationalismus und Freiheit, Kommunismus und Anarchismus – und über Dynamit.
     
    Nach dem Besuch in der Gaststätte fand sich Bill wieder allein mit Goldberg. Er wusste nicht mehr genau, wie das zugegangen war, aber plötzlich fühlte er sich einsam und recht unbehaglich und die Ursache dieses Unbehagens war Goldberg.
    »Was hast du dem Gesindel in der Gaststätte erzählt?«, fragte ihn Goldberg unvermittelt. »Hm?«
    Bill zuckte zusammen. In so barschem Ton

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