Der Tiger im Brunnen
Goldberg als dessen Leibwächter eingeführt worden und so schüttelte er nun höflich Hände, ließ sich große Gläser dünnen holländischen Biers einschenken und übte sich im genauen Beobachten. Was ihn besonders beeindruckte, war die Hochachtung, mit der man Goldberg überall begegnete. Wohin sie auch kamen, ob in ein Privathaus, eine Gaststätte oder in einen Versammlungssaal, Goldberg wurde überall erkannt und von Bewunderern aller Art umringt: ältere, professoral wirkende Herren, große Russen mit imposanten Bärten, derbe Arbeiter und gestandene Gewerkschafter und nicht zuletzt auch junge Frauen. Goldberg bewegte sich unter ihnen wie ein aus dem Exil heimgekehrter König. Die anderen hingen an seinen Lippen, stießen mit ihm an, offerierten ihm Zigarren, standen auf, wenn er den Raum betrat, begrüßten ihn mit Applaus und betrachteten ihn mit großen, erwartungsvollen Augen, wenn er mit seiner klaren, sonoren, schalkhaften Stimme zu sprechen begann. Seinen Freund und Gönner mit so viel Respekt und Bewunderung empfangen zu sehen, ließ Bills Hochachtung für ihn nur noch größer werden.
Da er nicht lesen konnte, wusste er nicht, dass Goldbergs Zeitungsartikel schon seit einiger Zeit durch die liberale Presse überall in Westeuropa verbreitet wurden. Und weil er nichts von Politik verstand, blieb ihm verborgen, dass sich viele Menschen von Goldberg erhofften, er werde dem sozialistischen Standpunkt in der öffentlichen Diskussion wieder Geltung verschaffen, nachdem sich die Internationale Arbeiterassoziation 1872 zerstritten und um ihren Einfluss gebracht hatte.
Zu dem Kongress hatten sich Delegierte aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Russland, Dänemark, Holland und Belgien eingefunden. Bill war schon glücklich, sie alle sehen zu können, und bemühte sich herauszufinden, in welcher Sprache sie redeten, auch wenn er kein Wort von ihren Vorträgen verstand. Er folgte Goldberg wie ein getreuer Wachhund auf Schritt und Tritt und war wie ein solcher ebenso weit davon entfernt zu verstehen, was sein Herr und Meister sagte oder tat. Am zweiten Tag hörte er dann jemanden Jiddisch reden, worauf er – auch darin einem Hund nicht unähnlich – die Ohren spitzte und neugierig um sich blickte.
Es war in einer überfüllten Gaststätte in der Hafengegend. Im Saal hingen dichte Schwaden von Zigarrenqualm und es roch nach eingelegten Heringen. Goldberg diskutierte gerade eine bestimmte Theorie mit einer Gruppe aus Berlin und Bill beobachtete, wie sich die einzelnen Teilnehmer engagierten, vor allem eine junge Frau, die Goldberg immer wieder ins Wort fiel. Goldberg parierte jeden ihrer Angriffe. Er sprach zu ihr mit dem gleichen spöttischen Humor, den er gegenüber Männern gebrauchte, und nicht weniger scharfzüngig, obgleich seine Gegnerin mehr als einmal vor Zorn rot anlief. Sie war dunkelhaarig, füllig und hatte schöne graue, zornig funkelnde Augen, aus denen Stolz sprach. Bill dachte, sie könnte Jüdin sein. Er fragte sich gerade, wie es wohl wäre, wenn er von einer Frau mit solchen Blicken durchbohrt würde, als er plötzlich hörte, wie jemand hinter ihm Jiddisch sprach.
Bill drehte sich um und sah dem Mann geradewegs in die Augen. Er mochte Anfang zwanzig sein, hatte ein knochiges, grimmiges Gesicht mit einem schwarzen Wuschelkopf und einem schmalen Bart. Zusammen mit zwei anderen Männern saß er am Tisch und trank Schnaps. Er musste von Bills Beziehung zu Goldberg wissen, denn er nickte und prostete ihm zu. Bill schaute zu Goldberg hinüber, doch der war beschäftigt. Also stand er auf und ging zögernd an den Tisch des jungen Mannes.
»Avram Cohn«, stellte sich der junge Mann vor und streckte ihm die Hand entgegen.
»Bill Goodwin«, sagte Bill und schüttelte die ausgestreckte Hand.
Cohn sagte etwas auf Jiddisch. Bill war verlegen.
»Nur Englisch«, bat er. »Ich spreche kaum Jiddisch.«
»Gut, dann sprechen wir Englisch«, sagte Cohn. »Setz dich und trink ein Glas Schnaps mit uns.«
Von so viel Aufmerksamkeit geschmeichelt, setzte sich Bill an ihren Tisch. Cohn stellte ihm die anderen beiden vor: Der eine hieß Meyer, ein rothaariger junger Mann, der andere Giuliani, ein fanatisch aussehender Mensch, der ständig an etwas kaute, seien es Fingernägel, Lippen oder Bart.
»Du kommst also aus England«, sagte Cohn.
»Ja, aus London«, sagte Bill und nahm das kleine Glas mit dem eisgekühlten Schnaps, den Cohn ihm eingeschenkt hatte. Er schaute zu Meyer hinüber und stürzte
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