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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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verstehen«, sagte sie, »glauben Sie mir, Mr Adcock, ich versuche zu verstehen, wie es möglich ist, dass einer unschuldigen Frau, der man ihr Kind wegnehmen will und die logischerweise Fragen stellt, deswegen auch noch mit gerichtlichen Anordnungen gedroht wird. Was ist das für ein Gesetz, das den Beklagten dafür bestraft, dass er herausfinden will, weshalb er überhaupt vor Gericht gestellt wird? Können Sie sich vorstellen, was das für ein Gefühl ist?«
    Der Anwalt hob beschwichtigend die Hände. Er schien damit Verständnis und Nachsicht ausdrücken zu wollen, in Wirklichkeit aber demonstrierte die Geste seine Hilflosigkeit. Sally wandte sich ab und ging zur Tür.
    »Wenn ich seinem Haus fernbleibe, kann ich dann vor gerichtlichen Schritten sicher sein?«, fragte sie, die Hand auf der Türklinke.
    »Der Text ist nicht eindeutig … Soweit ich es überblicke, ja. Damit ist sein Haus gemeint und die Nachbarn, die Sie – äh – besucht haben, sowie alle anderen Örtlichkeiten, an denen eine ähnliche Störung möglich wäre … Man könnte indes anführen, dass diese Auslegung zu weit gefasst ist. Das wäre ein denkbarer Einwand. Wenn Sie wünschen, kann ich – «
    »Nein, verschwenden Sie damit nicht Ihre Zeit. Haben Sie einen Termin mit Mr Coleman vereinbart? Dem plädierenden Anwalt?«
    »Oh, da hatten wir mehr Glück. Mr Coleman ist bereit, Sie am Siebzehnten um halb sechs Uhr zu empfangen.«
    »Am Tag vor …«
    »Richtig, am Tag vor dem Prozess. Ich musste Mr Coleman von der Dringlichkeit Ihres Wunsches überzeugen. Er ist zwar nicht der Ansicht, dass es hilfreich ist, aber er empfängt Sie.«
    Immerhin etwas, dachte Sally. Der Prozess ließ sie nun nicht mehr los. Der Gedanke daran beschäftigte sie so sehr, dass sie Mühe hatte, sich auch nur für ein paar Minuten mit etwas anderem zu beschäftigen. Sie grübelte endlos über Mr Adcocks Worte und versuchte ihnen etwas Hoffnungsvolles zu entnehmen, wie ein Goldschürfer, der sich klarzumachen versucht, dass er eine mühselige, langwierige Arbeit vor sich hat, für die man einfach Geduld braucht. Und so überzeugte sie sich davon, dass Mr Adcocks Vorgehen eigentlich nur seine genaue Kenntnis des Gesetzes und seine juristische Bedachtsamkeit beweise.
    Doch das hielt nicht lange vor. Innerlich kochte sie. Wie konnte das Gesetz gegen alle moralischen Grundsätze dermaßen tückisch verdreht werden? Dachten die Anwälte beim Verfassen ihrer Klageanträge und einstweiligen Verfügungen auch nur einen Augenblick daran, was sie da eigentlich anrichteten? War das ganze herrliche englische Rechtssystem so leicht zu offenkundig unmoralischen Zwecken zu manipulieren?
    Sally mochte das nicht glauben. Noch immer konnte sie es nicht fassen, noch immer hoffte sie, dass das Gericht die Klage ablehnen werde, noch immer hielt ein Teil ihrer selbst das Ganze für einen bösen Traum. Damit befand sie sich genau in dem Zustand, in dem der Verfolger sein Opfer sehen wollte.
     
    Mr Parrish hatte gerade ein höchst befriedigendes Gespräch mit seinem Anwalt.
    »Sie haben Coleman engagiert«, berichtete ihm Mr Gurney.
    »Und? Ist er gut?«
    »Der Beste, Sir.«
    »Und wen haben wir engagiert? Warum haben wir nicht den Besten?«
    »Weil wir den Besten gar nicht brauchen. Wir haben Sanderson. Der Zweitbeste ist gut genug für einen so eindeutigen Fall wie diesen. Coleman hat keine Chance zu gewinnen, selbst wenn er das rhetorische Talent eines Demosthenes mit dem eines Cicero in sich vereinen würde.«
    Mr Parrish hatte die Namen dieser Herren irgendwann schon einmal gehört, allerdings war das schon eine Weile her.
    Er brummte.
    »Ich nehme an, Sie wissen, was Sie tun«, begnügte er sich zu sagen.
    »Coleman kennt seine Chancen. Er wird sich blendend schlagen. Ich freue mich schon darauf, seine Argumente zu hören. Aber er wird nicht gewinnen und das weiß er. Und ich weiß, dass er es weiß, weil ich seinen Assistenten gut kenne.«
    »Schön«, sagte Parrish. »Nun zum geschäftlichen Teil. Wie steht es mit dem Finanziellen?«
    »Das hängt davon ab, ob die Entscheidung des Gerichts zu unseren Gunsten ausfällt. Und das wird sie. Das Eigentum der Ehefrau ist, juristisch gesprochen, das Eigentum des Gatten, also Ihres. Eine separate gerichtliche Entscheidung ist nicht nötig. Das Gesetz ist hier eindeutig.«
    »Also gehört mir alles, was ihr gehört?«
    »So platt würde ich es nicht sagen«, schränkte Mr Gurney ein, dessen Gewissen, obzwar schon weitgehend geschwunden,

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