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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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gefragt zu werden traf ihn wie ein Schlag. Er versuchte wieder Ordnung in seinen Kopf zu bringen.
    »Wir haben über alles Mögliche geredet, über Dynamit und so. Und dann haben sie … nach den Iren gefragt. Nach den Feniern.«
    Goldbergs Augen funkelten gefährlich. Bill ertappte sich dabei, wie er zu zittern begann.
    »Und weiter?«, bohrte Goldberg.
    »Sie haben geredet … von etwas, das sie Terrorismus nennen – «
    Ohne Vorwarnung hatte ihn Goldberg plötzlich gepackt und gegen die Wand gedrückt. Mit der einen Hand hielt er ihn fest, die andere lag, zur Faust geballt, unter seinem Kinn. Bill hatte gewusst, dass dieser Mann gewaltige Kraft besaß, breitschultrig wie er war, aber wie rasch und unvermittelt diese Kraft aus ihm hervorgebrochen war – ihm blieb die Luft weg …
    »Solche Gespräche sind reinstes Gift«, donnerte Goldberg los. »Solche Leute sind Gift. Kletten und Schmarotzer sind das. Die haben mit uns nichts zu tun, genauso wenig wie mit Fortschritt und Sozialismus. Weißt du eigentlich, was Bomben anrichten? Hast du schon mal gesehen, wie eine Bombe hochgeht? Wie es aussieht, wenn unschuldige Kinder dabei zerfetzt werden? Ich weiß es. Kampf? Selbstverständlich kämpfen wir, wenn es sein muss. Aber wir kämpfen gegen das Böse und nicht gegen die Unschuld. Und wir können das eine vom anderen unterscheiden. Was die hingegen wollen, ist töten, wahllos töten, töten um des Tötens willen, Panik verbreiten, Blut vergießen, zerstören. Wie zum Teufel soll dadurch die Welt besser werden? Den eigenen Kopf und die Stimme benutzen, aufklären, argumentieren und organisieren, so bewirkst du etwas. Das heißt Fortschritt. Das erfordert Mut, darin liegen Würde und Sinn. Wenn ich dich noch einmal mit diesem feigen Pack sehe, dann ist es aus mit uns. Benutze deinen Verstand! Sieh genau hin, höre und vergleiche. Wer sind die guten, wer die schlechten Leute. Streng gefälligst deinen Kopf an!«
    Noch nie hatte jemand so zu Bill gesprochen. Er fürchtete sich weniger vor Goldbergs Bärenkräften als vielmehr vor der Anforderung, die dieser an ihn stellte. Doch war es keine lähmende, krank machende Furcht. In ihr lag eine gewisse Erregung und auch Stolz. Ganz offensichtlich lag Goldberg etwas an ihm.
    Bill fühlte sich noch nicht ganz sicher auf den Beinen, als er Goldberg in den Saal begleitete, in dem der führende Sozialist an jenem Abend sprechen sollte. Er erinnerte sich noch daran, eingelegte Heringe gegessen und viele Tassen starken Kaffees getrunken zu haben. Dann war er durch enge Gassen und über Brücken gegangen, vorbei an Kais, wo Kähne vor Anker lagen, Hunde bellten und Pfeife rauchende Arbeiter Kohle, Tabakballen und Salzsäcke an Land trugen. Auch an den stickigen, verräucherten Saal konnte er sich erinnern, an die vollen Ränge und die erwartungsvolle Atmosphäre, die herrschte, als Goldberg seine Rede begann. Bill war in eine Ecke im hinteren Teil des Saals gedrängt worden. Er war nicht einmal mehr in der Lage zu sitzen, aber wenn ihm auch die Augen vor Müdigkeit zufallen wollten, er kämpfte dagegen an und hielt sich wach.
    Goldberg sprach auf Deutsch. Die klare, ein wenig raue, aber ausdrucksstarke Stimme, die dramatischen Blicke, die spöttisch verzogenen Lippen, die durcheinandergeratenen Manuskriptseiten, die Art, wie er sich nach und nach vom Rednerpult entfernte, bis er direkt vor dem Publikum stand, nun ohne Manuskript, in freier Rede, die unmittelbar vom Herzen zu kommen schien, die Worte fast schon singend – Bill sah und nahm das alles in sich auf; Goldbergs Stimme und seine ganze Persönlichkeit zogen ihn in ihren Bann, auch wenn ihm die Worte unverständlich blieben. Er spürte die Leidenschaft und den Humor, den Mut und die visionäre Kraft dieses Mannes. Und er spürte die Hoffnung. Hingerissen klatschte, schrie und stampfte er wie die anderen im Saal, und Avram Cohn, Meyer und Giuliani, die Fenier und der Terrorismus waren vergessen.
     
    Jemand rüttelte ihn an der Schulter, bis er aufwachte. Sein Kopf brummte fürchterlich und im Mund hatte er immer noch einen ekligen Geschmack. Ihm war, als müsse ihm gleich übel werden: Waren sie schon wieder auf See?
    Aber da hörte er Goldbergs Stimme. Bill richtete sich mühsam auf und spitzte die Ohren.
    »Der Zaddik ist hier in Amsterdam. Auf, mein Junge. Wir gehen ein bisschen spionieren. Brummt dir der Schädel? Geschieht dir recht. Hättest lieber Bier statt Schnaps trinken sollen. Zieh dir deinen Mantel an –

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