Der Tiger im Brunnen
jetzt bringen wir erst einmal Harriet ins Bett, dann kannst du mir bei dem Brief an Mr Beech helfen. Glaubst du, dass Nick weiß, wie man abgängigen Geistlichen auf die Spur kommt?«
Am darauffolgenden Tag ging Rosa nach Sommerset House. Fassungslos kam sie wieder zurück: Gegen Zahlung der Gebühr von einem Penny hatte man ihr die Abschrift einer Geburtsurkunde gegeben, die auf den Namen Harriet Rosa Parrish, geboren am 30. September 1879 in der Telegraph Road, Clapham, ausgestellt war. Der Name des Vaters lautete Arthur James Parrish, derjenige der Mutter Veronica Beatrice Parrish, geborene Lockhart. Von Harriet Rosa Lockhart, geboren am selben Tag in Orchard House, Twickenham, fand sich urkundlich keine Spur.
»Allmählich begreife ich, was du meinst«, sagte Rosa. »Das Ganze ist ein einziger Lug und Trug, aber mit welchem Aufwand alles inszeniert wurde … Dennoch, wir kriegen sie. Irgendwie werden wir sie schlagen.«
Wenngleich Rosa sich eine Bemerkung in dieser Richtung verkniffen hatte – Sally verstand auch so: Sie bedauerte, dass sie Harriet nicht hatte taufen lassen. Dann hätte sie eine Urkunde besessen, die ihren Standpunkt stützte. Aber dazu war es jetzt zu spät.
Rosa blieb zwei Tage in Orchard House. Es war eine seltsame Zeit, die sie zusammen verbrachten. Über Sally braute sich ein Sturm zusammen, der in Kürze losbrechen würde.
Rosa bot all ihre Energie und ihren gesunden Menschenverstand auf, um Sally aus dem Bann dieser Bedrohung zu lösen. Doch es half alles nichts. Sally fühlte sich, als würde sie in zwei verschiedenen Welten leben, ohne zu wissen, zu welcher von beiden sie nun gehörte.
Am Tag von Rosas Abreise flatterte ein weiteres Gerichtsschreiben ins Haus. Kaum hatte Sally es geöffnet und gelesen, eilte sie auch schon in die Middle Temple Lane.
»Eine einstweilige Verfügung«, sagte der Anwalt. »Um Gottes willen, Miss Lockhart, was haben Sie da angestellt?«
»Was ist denn das, eine einstweilige Verfügung?«
»Damit weist Sie das Gericht an, alles zu unterlassen, was … Oh, oh, oh, Miss Lockhart, sind Sie etwa zu Mr Parrishs Haus gegangen?«
»Ja.«
»Und Sie haben seine Nachbarin ausgefragt – und dabei massiv verunsichert, wie es scheint?«
»Wie bitte? Ich habe weniger als eine Minute mit ihr gesprochen. Das Gegenteil davon ist wahr: Sie wollte mich verunsichern. Wozu um alles in der Welt taugt diese einstweilige Verfügung? Will dieser Mensch mir verbieten, Leute zu besuchen und ihnen Fragen zu stellen?«
»Ebendies. Das war sehr unvorsichtig von Ihnen, Miss Lockhart. Wir geraten dadurch in eine überaus missliche Lage …«
»Hat Ihr Detektiv denn inzwischen mit seinen Ermittlungen begonnen?«
»Nein, noch nicht.«
»Warum nicht? Die Zeit wird immer knapper!«
»Miss Lockhart, ich möchte Sie doch bitten, nicht in diesem Ton mit mir zu reden. Ich bin mir durchaus bewusst, dass die weibliche Natur reizbarer ist als die männliche, aber ich glaubte, Ihnen ein gewisses Maß an Selbstbeherrschung unterstellen zu dürfen. Ich habe noch keinen Detektiv für den Auftrag gefunden.«
Sally ballte die Hände zu Fäusten und versuchte ruhig zu bleiben.
»Mr Adcock, wir haben bereits vor drei Tagen über diese Sache gesprochen. Jetzt sagen Sie mir bitte, warum Sie noch keinen Detektiv beauftragt haben.«
»Aus einem sehr einfachen Grund. Ich möchte sichergehen, dass wir einen Könner seines Fachs finden. Dazu habe ich verschiedene Referenzen einholen lassen – möchten Sie die Gutachten lesen, die ich erhalten habe? Miss Lockhart, Sie dürfen das Vertrauen in Ihren Anwalt nicht verlieren. Ich kann Ihre Anspannung sehr gut verstehen, aber lassen Sie daraus keine Panik entstehen. Ganz sicherlich ist es nicht von Nutzen, Schritte der Art zu unternehmen, wie Sie es getan haben. Denken Sie einmal daran, wie schwer es für den Detektiv sein wird, Auskünfte zu erhalten, nachdem Sie derart vorgeprescht sind? Er muss nun erst einmal das Misstrauen zerstreuen, das sie bei den Leuten hinterlassen haben, bevor er überhaupt Fragen stellen kann. Und wenn ich mir diese einstweilige Verfügung genau anschaue, scheint es zweifelhaft, einen solchen Schritt jetzt noch zu unternehmen. Wenn überhaupt, dann müssen die Informationen mit größtem Taktgefühl eingeholt werden. Sehr, sehr behutsam … Miss Lockhart, ich fürchte, dass Sie Ihren Interessen erheblich geschadet haben. Die gegnerische Partei wird anführen, dass – «
Sally stand auf.
»Ich versuche ja zu
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