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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Licht reflektierte, das plötzlich aus einem der umliegenden Häuser drang, war eine schimmernde schwarze Kutsche zu sehen. Auf dem Bock saß ein Kutscher, daneben machten sich zwei Bedienstete in Livree an einem Apparat neben dem Kutschenschlag zu schaffen. Die beiden Diener hatten eine eiserne Verladeplatte unter dem Gehäuse der Kutsche hervorgeklappt und stellten nun die Höhe ein. Danach legte einer der beiden eine hölzerne Rampe auf die Treppe, die in den erleuchteten Hauseingang führte, während der andere den Schlag entriegelte. Die Öffnung war größer als sonst üblich; fast schien es so, als würde die ganze Seite der Kutsche weggeschoben.
    Die Diener stiegen in die Kutsche und kurz darauf kam ein großer Rollstuhl zum Vorschein. Mit größter Behutsamkeit bugsierten die Männer den Rollstuhl auf die Eisenplatte. Während einer ihn festhielt, drehte der andere seitlich an einer Kurbel, mit der die Platte auf das Niveau der Straße abgesenkt werden konnte.
    Im Rollstuhl saß bewegungslos eine große, ganz in Schwarz gehüllte Gestalt. Das Einzige, was Bill an ihr erkennen konnte, war die Silhouette eines Zylinderhuts. Für einen Augenblick sah er auch einen großen behandschuhten Arm, der schlaff herabhing, dann hörte er eine tiefe, brüchige Stimme im Befehlston. Der Diener, der am nächsten stand, fasste den Arm behutsam und legte ihn zu dem anderen in den Schoß des Mannes.
    Als die Platte bis auf das Pflaster herabgesenkt war, stellten sich beide Diener hinter den Rollstuhl und schoben ihn die Rampe hinauf. Was Bill dann zu sehen bekam, verschlug ihm den Atem.
    Etwas kletterte aus dem Kopf des Mannes – ein dunkles, geschmeidiges Wesen von der Größe einer Katze, das behände an ihm hinunterkroch und sich leise keckernd auf seinem Schoß niederließ.
    Der Dibbuk, dachte Bill und ein Schauder überfiel ihn.
    Die Gestalt war halb menschlich und halb teuflisch: Sie hatte Hände, einen Schwanz und strahlte Bosheit aus. So stellte man sich die Spießgesellen des Teufels vor, wie sie hüpfend und springend ihren Spott mit den Verdammten treiben. Bill beobachtete das Wesen den Augenblick, den die Diener brauchten, um den Rollstuhl die Rampe hinauf bis ins Haus zu schieben. Erst dann merkte er, dass er in der Zeit vor Angst den Atem angehalten hatte.
    Mit einem Seufzer löste er die Beklemmung in seiner Brust. Lächerlich. Es war der Schnaps, es war der Nebel; er hatte einfach nicht richtig gesehen. Die Oberfläche der Spiegelscherbe war mit Nebel beschlagen und hatte sicherlich ein verzerrtes Bild abgegeben. Doch es war etwas Diabolisches an der kleinen dunklen Gestalt, und wie sie dem Kopf des Mannes entstiegen war – oder hatte sie auf seiner Schulter gesessen? –
    In die Stille der nächtlichen Uferstraße mischte sich plötzlich ein Stöhnen, das aus der Kutsche kam. Eine Mädchenstimme, so schien es Bill, die Qualen verriet.
    Mit zitternder Hand richtete er nochmals seinen Spiegel aus. Der Kutscher saß noch immer auf dem Bock, den Rücken der Gasse zugekehrt, in der sich Bill versteckt hielt. Die Pferde standen regungslos da, die Ausdünstung ihrer Flanken verband sich mit dem Nebel. Der Wagenschlag stand offen.
    Und dann kam dieses teuflische kleine Wesen aus dem Haus geschossen und sprang vom Straßenpflaster in die Kutsche. Das Mädchen schrie auf.
    Ehe Bill überhaupt einen Gedanken fassen konnte, war Goldberg schon auf halbem Weg zwischen seinem Versteck und der Kutsche. Doch da erschien schon das Mädchen selbst auf der Verladeplatte – in dunklem Umhang, mit dunklem Haarschopf, Mund und Augen weit aufgerissen – und fiel der Länge nach auf das Pflaster.
    Sogleich richtete sie sich wieder auf. Sie sah nichts, hörte nichts – offenbar befand sie sich in einem Zustand, in dem man weder Angst noch Bedenken kennt. So, als wäre Goldberg gar nicht da, lief sie an ihm vorbei geradewegs auf den Kai zu und sprang ins Wasser. Im nächsten Augenblick war sie verschwunden.
    Bill sprang aus seinem Versteck und eilte zu Goldberg am Rand des Kais. Das Wasser war schwarz und der Nebel darüber so dicht, dass sie kaum etwas erkennen konnten. Auf der Wasseroberfläche pflanzten sich Wellen konzentrisch fort, von dem Mädchen aber fehlte jede Spur. Da ertönte eine Stimme unter ihnen. Goldberg drehte sich um und antwortete in derselben Sprache. Es war der Kutscher. Er schaute unruhig zum Haus zurück, aus dessen Eingang sich goldenes Licht in den Nebel ergoss. Ein Diener erschien und der Fahrer gab ihm

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