Der Tiger im Brunnen
draußen ist es verdammt kalt.«
Bill war sich nicht schlüssig, wo sie sich befanden. Eine Öllampe erhellte einen engen, mit allerlei Kram voll gestopften Raum mit einem Eisenofen in der Ecke und runden Fenstern. Da fiel es ihm wieder ein: Sie waren auf einem Kahn. Ein Schiffer hatte sie irgendwo abholen sollen – in den Hafenanlagen? Er hatte es vergessen. Einerlei, Goldberg brauchte ihn und sie hatten den Zaddik ausfindig gemacht.
Bill hatte einige Mühe, sich in seinen Mantel zu zwängen.
»Was machen wir jetzt eigentlich? Der Zaddik … wollen Sie ihn schnappen?«
Goldberg schaute gespannt aus dem Fenster. Bill konnte nicht viel erkennen, denn draußen war es dunkel. Sie schienen nicht in Bewegung zu sein. Doch dann glitt ein erleuchtetes Fenster vorbei und sogleich hatte er wieder das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Er ließ sich in die Koje zurücksinken.
»Wir wollen ihn ausspähen«, sagte Goldberg. »Mal schauen, ob wir herauskriegen, wer er ist und was er treibt.«
Bill schlug den Mantelkragen hoch und band sich das blauweiß gesprenkelte Halstuch um. Erst jetzt bemerkte er, dass sich noch ein weiterer Mann im Raum befand, der auf der oberen Koje lag und die Hände hinter dem Kopf verschränkt hielt.
»Seine Kutsche ist heute aus einem Rheinkahn an Land gebracht worden«, sagte der Mann in ruhigem Tonfall. »Angeblich soll er von Köln hierhergekommen sein. Wir fahren jetzt zur Heerengracht und schauen, ob er in dem Haus ist, in dem wir ihn vermuten.«
»Was wollt ihr dann mit ihm machen?«, fragte Bill. »Wollt ihr ihn zusammenschlagen?«
Goldberg drehte sich um. »Wir wollen mehr über ihn herausfinden, Bill. Das ist alles.«
»Weißt du, was ein Dibbuk ist?«, fragte ihn der andere Mann.
»Ein Dibbuk? Was soll das sein?«
»Das ist ein böser Geist, ein Dämon. Der Zaddik hat einen Dibbuk als Diener. Gewöhnlich ergreifen die Dibbuks Besitz von den Menschen und fahren in sie. Doch der hier lebt außerhalb des Körpers. Manche haben ihn gesehen. Auch du könntest ihn sehen, wenn du die Augen offen hältst.«
Bill verkniff sich eine verächtliche Bemerkung. Goldberg schaute wieder aus dem Fenster und der Mann in der Koje beobachtete ihn still.
Der Kahn näherte sich nun dem Kai. Bill hörte draußen eine Stimme, die einem Pferd gut zuredete, und dann ein leises Schnauben, als das Tier sich schüttelte.
»Los geht’s«, sagte Goldberg, reichte dem Mann in der oberen Koje die Hand und sagte etwas auf Deutsch zu ihm. Auch Bill nickte ihm zum Abschied zu und folgte Goldberg dann den kleinen Aufgang hinauf an Deck.
Draußen schlug ihm kalter Nebel entgegen. Es war stockdunkel. Die Welt schien zur Hälfte aus Luft und zur anderen Hälfte aus Wasser zu bestehen; die wenigen Lichter, die er erkennen konnte – einige erleuchtete Fenster, ein schwacher Schimmer am Bug des Kahns –, hatten alle einen Hof aus Feuchtigkeit. Bill sprang über die Kluft zwischen dem teerigen Schiffsdeck und dem steinernen Kai und hörte Goldberg ein paar Worte zu dem Mann mit dem Pferd sagen. Als die kalte Luft in seine Lungen hinabstieg, versuchte er sich noch tiefer in seinen Mantel zu vergraben.
Der Schiffer schnalzte mit der Zunge und das Pferd zog am Schlepptau. Der Kahn setzte sich langsam in Bewegung. Goldberg fasste Bill am Ärmel und bedeutete ihm zu folgen. Beide gingen durch eine dunkle Gasse zwischen zwei großen Gebäuden, die man im Nebel sowohl für Lagerhäuser als auch für Stadtpalais hätte halten können. Aus dem ersten Stock des einen kam Licht, aber das andere war dunkel.
Die Gasse mündete in eine Straße, die an einer anderen Gracht entlang verlief. Die Wasserseite war von Bäumen gesäumt, gegenüber ragten stattliche Backsteinbauten in die Höhe. Ringsum herrschte tiefe Stille, ab und an hörte man das Wasser glucksen.
»Wie spät ist es?«, flüsterte Bill.
»Nach Mitternacht. Hast du deinen Rausch ausgeschlafen? Aber horch! Könnte er das nicht sein?«
Bill lauschte angestrengt, dann vernahm er Hufgetrappel und das Knirschen eiserner Räder auf dem Pflaster. Goldberg verschwand im Dunkel hinter dem nächsten Baumstamm und Bill glitt zurück in die Gasse, aus der sie gekommen waren. Er drückte sich gegen eine feuchte Backsteinwand, als das Getrappel näher kam und die Kutsche anhielt.
Bill konnte Goldberg nicht sehen, obwohl er wusste, dass er nur ein paar Schritte von ihm entfernt war. Er griff in seine Manteltasche und holte seine Spiegelscherbe heraus.
Im Spiegel, der das
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