Der Tiger im Brunnen
ein Zeichen.
»Wir sind bloß zufällig hier vorbeigekommen«, flüsterte Goldberg Bill zu.
Dann sprach er laut und auf Holländisch zu dem Kutscher. Es ging um die Polizei, wenn Bill sich nicht täuschte. Der Diener hörte das, nickte und lief zum Haus zurück. Bill ging in die Hocke und beugte sich über die Kaimauer, doch er konnte nichts erkennen. Das Mädchen blieb verschwunden.
In den folgenden Minuten kamen drei weitere Diener mit Laternen und eilten auf die nahe gelegene Brücke. Kurze Zeit später kam ein Polizist mit Netz und Bootshaken und bald darauf fuhr ein Dampfboot mit elektrischen Lampen unter der Brücke hindurch und legte an der Kaimauer an.
Die Polizisten machten einen kompetenten Eindruck und verrichteten ihre Arbeit ohne Hast. Bill vermutete, dass es einen dienstlichen Leitfaden gab, nach dem in den Grachten Ertrunkene zu suchen und zu bergen waren. Gewöhnlich fühlte sich Bill in der Gegenwart von Polizisten unwohl, aber nach dem, was er kurz zuvor gesehen hatte, konnte er ihnen gar nicht nahe genug sein. Sie waren aus Fleisch und Blut, sie waren Menschen, keine Gestalten aus Albträumen.
Nach weiteren Minuten des Wartens – die Polizisten hatten unterdessen ein Beiboot zu Wasser gelassen und suchten mit Bootshaken das Wasser ab – gab Goldberg Bill einen sanften Stoß in die Seite und sagte ruhig zu ihm: »Die Dienstboten beginnen uns merkwürdig anzusehen. Ich glaube, wir verdrücken uns jetzt lieber. Die Polizei wird das Mädchen nicht so schnell finden und ich habe genug gesehen.«
Er sagte ein paar unverbindliche Worte zu den Männern am Kai, wünschte eine gute Nacht oder viel Glück und ging von dannen. Bill folgte ihm. Er warf noch einen letzten Blick auf das Haus, in dem der Mann im Rollstuhl verschwunden war, aber weder von ihm noch von seinem Dibbuk war irgendetwas zu sehen.
Der Scherenschleifer
Am Tag nach der Begegnung mit Bill erhielt Sally einen Brief mit dem Poststempel von Norwich. Sie öffnete ihn sofort.
Sehr geehrte Miss Lockhart,
ich bedauere Ihnen mitteilen zu müssen, dass Pfarrer Beech nicht länger an dem in der Adresse genannten Ort wohnt und dass sein gegenwärtiger Aufenthaltsort mir unbekannt ist.
Ihren Brief schicke ich Ihnen zurück. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich ihn öffnen musste, um mich Ihrer Adresse zu vergewissern.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. med. T. D. Gunston,
Mitglied der königlichen Ärztekammer
Leiter von St. Anselm
Ihr Brief lag dem Kuvert bei. Zunächst wusste Sally nicht, was sie davon halten sollte: Eine Welle der Enttäuschung ging über sie hinweg. Sie war wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass St. Anselm eine Kirchengemeinde sei. Wenn dieses St. Anselm aber einen Leiter hatte und der Mann Mediziner war, dann rückte wieder alles ins Ungewisse. War es ein Pflegeheim? Eine Mission?
Sie stand vom Frühstückstisch auf, nahm die Teetasse mit zum Schreibtisch und schrieb umgehend an Dr. Gunston.
Sehr geehrter Herr Dr. Gunston,
vielen Dank, dass sie sich die Mühe gemacht haben, mir meinen Brief an Pfarrer Beech zurückzuschicken.
Mir ist sehr daran gelegen, ihn in einer Sache zu sprechen, die für mich von höchster Wichtigkeit ist. Die Zeit drängt und der einzige Hinweis auf seinen Aufenthaltsort, den ich hatte, war der Name St. Anselm, was ich für die Kirchengemeinde hielt, in der Mr Beech seine neue Pfarrstelle angetreten hat. Sie schreiben, er wohne nicht mehr dort. Darf ich Sie fragen, was für eine Einrichtung St. Anselm ist und wie lange er sich dort aufgehalten hat?
Alles, was Sie mir dazu sagen können, hilft mir weiter.
Sally unterschrieb den Brief, frankierte ihn und warf ihn auf dem Weg zur Arbeit in den nächsten Briefkasten.
Es passierte ihr jetzt oft, minutenlang am Schreibtisch zu sitzen, ohne etwas zu sagen, nur mit einem Bleistift zu spielen und schließlich in völlige Bewegungslosigkeit zu verfallen. Sie fühlte sich wie in Trance – als würde sie in Wirklichkeit schlafen, aber ohne die Unruhe, die sie im Bett quälte. In solchen Augenblicken schwand das Gefühl der Verantwortung und ihre ganze Existenz schien zusammenzuschrumpfen.
Sie so zu sehen, bereitete Margaret Haddow Kummer und ebenso Cicely Corrigan, ihrer Bürohilfe. Cicely brachte ihr dann immer Briefe zum Unterschreiben oder stellte belanglose Fragen, nur um Sally aus ihrer Lethargie zu reißen. An dem Tag, an dem Sally dem Leiter von St. Anselm zurückschrieb, nahm Margaret sich vor,
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