Der Tiger im Brunnen
und dahinter das Mansion House.
An der Tür mit der Aufschrift S. Lockhart, Finanzberatung, klopfte er an.
»Herein«, antwortete eine weibliche Stimme.
Bin ich schon am Ziel?, dachte er. Sicherlich nicht …
Die junge Dame am Schreibtisch, die Anfang zwanzig sein mochte, war nicht Miss Lockhart beziehungsweise Mrs Parrish. Dem Foto nach zu urteilen, war jene ausgesprochen hübsch, diese hier kaum. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Aus ihrem Gesicht sprach spöttische Überlegenheit, was Mr Billings überhaupt nicht mochte. Das letzte Mal, dass er einen Blick wie diesen gesehen hatte, war, als seine Tante ihn hinter dem Gartenschuppen beim Rauchen erwischt hatte.
Immerhin konnte er es probieren. »Miss Lockhart?«
»Nein, ich heiße Haddow. Miss Lockhart ist nicht da. Kann ich etwas für Sie tun?«
»Ach, eigentlich wollte ich Miss Lockhart sprechen. Ich vertrete die Anwälte Gillray und Gillray im Zusammenhang mit einem Testament. Miss Lockhart hat eine Summe Geldes geerbt, und – «
»Darf ich Ihre Karte sehen?«
Zackig ist sie auch noch. Er holte eine Visitenkarte aus seiner Rocktasche und reichte sie ihr. Zu seinem Entsetzen zog sie Kellys Adressverzeichnis aus dem Regal hinter ihr. Sollte sie die auf der Karte angegebene Adresse nachschlagen, würde sie merken, dass es sich um eine Deckadresse handelte, und nach einem weiteren Recherche-Schritt wüsste sie, dass sich dahinter die Arthur C. Montagu Privatdetektei verbarg. Besser, er blieb bei der Wahrheit, da diese Oberlehrerin offenbar nicht zu täuschen war.
Doch bevor er etwas sagen konnte, klopfte es an der Tür. Das war der Punkt, an dem Sally ihr Glück verließ.
Miss Haddow öffnete die Tür und sagte, zu Billings gewandt: »Würden Sie bitte einen Augenblick warten. Ich habe gerade einen Besucher – «
»Nachricht für Miss Lockhart, Miss«, sagte eine militärisch klingende Stimme.
Mr Billings konnte durch die offene Tür erkennen, dass es sich bei dem Besucher um einen Boten handelte. Ihm kam plötzlich eine Idee.
»Einen Augenblick, Miss«, sagte er und tat einen Schritt vorwärts. Alle drei standen nun an der Tür, doch die beiden anderen waren für einen Augenblick überrumpelt und dieser reichte ihm schon. »Kürzlich hat es einige Fälle gegeben, wo Boten in Uniform die Kundschaft getäuscht haben. Könnte ich bitte einmal Ihren Laufzettel sehen?«
Der Bote, ein stämmiger, grauhaariger Mann in einer betressten Uniform, war drauf und dran zu antworten, doch Miss Haddow unterbrach ihn scharf.
»Unternehmer dürfen Laufzettel überprüfen. Mir ist nicht bekannt, dass auch andere dazu befugt sind.«
»Schon recht, Miss«, sagte der Bote. »Meinen Laufzettel zeige ich jedem, der ihn sehen will.«
Er holte ein gefaltetes Papier hervor. Mr Billings nahm es an sich, warf einen kurzen Blick darauf und sagte dann: »Guten Tag, Miss.« Er gab dem Boten den Laufzettel zurück und eilte nach unten.
Während Margaret Haddow ihm noch nachschaute, wich ihre anfängliche Verblüffung echtem Zorn. Sie merkte, dass sie sich hatte übertölpeln lassen, wusste aber noch nicht, wie. Sie nahm dem Boten den Brief ab, gab ihm ein Trinkgeld und begann zu lesen.
»Hallo, Kutscher!«
Mr Billings Glückssträhne hielt an. Zufällig kam eine leere zweirädrige Droschke vorbei. Der Kutscher hörte ihn und machte unvermittelt kehrt, ein in der Nähe stehender Fußgängerlotse musste auf den Bordstein springen, wollte er nicht unter die Räder geraten. Der Schwall von Flüchen, den er ausstieß, enthielt einige, die auch für Mr Billings neu waren.
»Zur Zentrale des Korps der Botengänger, am Strand«, rief Mr Billings dem Kutscher zu und stieg ein. »Fahren Sie, so schnell Sie können.«
Der Kutscher besaß sportlichen Ehrgeiz; er hatte schon ein, zwei Fußgängerlotsen abgeschossen und war auch jetzt in Laune, noch einen in die Tasche zu stecken. Er ließ die Zügel klatschen, knallte mit der Peitsche und manövrierte die Droschke in die schmale Lücke zwischen einer vierrädrigen Kutsche und dem Karren einer Baufirma, was einen Entsetzensschrei in der Kutsche und einen Hagel Flüche auf dem Karren auslöste. Dann jagten sie unter Hufgeklapper und Rädergeratter wie ein römischer Streitwagen die Lombard Street hinunter. Mr Billings hielt sich den Hut fest und freute sich im Stillen über die strengen Regeln des Korps der Botengänger.
Das Korps setzte sich aus pensionierten Soldaten und Seemännern zusammen, die für zahlende Kunden alle
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