Der Tiger im Brunnen
Billings ins vordere Büro gestürzt kam und den dort arbeitenden Angestellten überraschte.
»Ich habe Bedenken, Mr Parrish jetzt zu stören«, murmelte der Angestellte, ein fischgesichtiger junger Mann mit ehernen Prinzipien. »Er ist gerade in einer Besprechung mit dem Ersten Sekretär der Vereinigten Missionsgesellschaften von Indien und Ceylon. Ich glaube nicht, dass …«
»Bring ihm das hier, Söhnchen«, entgegnete Mr Billings und kritzelte sogleich folgende Mitteilung auf eine Arthur-C-Montagu-Visitenkarte: Ich habe Miss Lockharts Adresse – Billings. »Na los. Starr keine Löcher in die Luft.«
Der junge Mann schluckte und klopfte dann an die Tür des Hinterzimmers. Mr Parrish mochte es nicht, bei Geschäften gestört zu werden. Immerhin konnte man es probieren …
Sein Arbeitgeber nahm die Karte, warf einen kurzen Blick darauf und erhob sich augenblicklich.
»Ist er draußen?«, fragte er.
»Ja, Mr Parrish.«
»Sagen Sie ihm, er soll warten. Bitte entschuldigen Sie mich, Mr Pryor. Eine dringende Angelegenheit. Wir können über die Möblierung Ihrer Mission ein andermal sprechen. Aber die Bibeln und die Tropenhelme gehen mit dem nächsten Schiff nach Madras. Ich wünsche noch einen guten Tag. – Blake, geleiten Sie Mr Pryor nach draußen.«
Der Missionar, der gerne noch über Moskitonetze und Pankhas gesprochen hätte, sah sich hinauskomplimentiert. Gleich darauf setzte auch Mr Parrish seinen Hut auf.
»Wo?«, fragte er Mr Billings lapidar.
»Bloomsbury. Die Droschke wartet unten.«
»Sauber.«
Eine Minute später sausten sie die Drury Lane hinunter. Der Kutscher genoss seinen Nachmittag.
Cicely Corrigan lief zum Droschkenstand in der King William Street. Sie war mehr als nur ein bisschen aufgeregt. Noch nie hatte sie allein eine Droschke genommen, nur einmal war sie mit ihrem Vater in einer gefahren. Wie viel Trinkgeld sie dem Kutscher wohl geben musste? Sie hatte gehört, dass die Kutscher sehr ausfällig werden konnten, wenn sie nicht genug Trinkgeld bekamen …
Cicely wünschte sich, sie hätte Miss Lockharts Gewandtheit oder Miss Haddows Selbstbewusstsein; beide wirkten so erwachsen. Lag das daran, dass sie beide studiert hatten?
Nun, sie musste ohne Studium das Beste daraus machen. Sie lief zur Droschke an der Spitze der Reihe und sagte: »Nach Bloomsbury bitte, Wellcome Passage Nummer fünf.«
»Sehr wohl, Miss«, bestätigte der Kutscher, als sie eingestiegen war. Er nahm die Zügel in die Hand und fuhr los.
Das ging ja leichter als gedacht. Im Zweifelsfall konnte sie wegen des Trinkgelds immer noch Miss Lockhart fragen.
Besonders schnell schien der Mann aber nicht zu fahren. Allerdings war der Verkehr auch sehr dicht. Sie waren hinter einen breiten Omnibus geraten, der wiederum – und um das zu sehen, musste sie den Kopf seitlich aus der Droschke recken – von einem Leichenwagen aufgehalten wurde. Am Ludgate Circus kamen sie vollends zum Stehen, weil ein Polizist dem Verkehr aus der Farrington Road die Vorfahrt gab.
Sie schienen eine Ewigkeit warten zu müssen, doch dann ging es schließlich doch weiter. Nach und nach wurde der Verkehr flüssiger, bis die Droschke schließlich mit Karacho die Fleet Street hinunterfuhr; rechts in die Chancery Lane mit ihren großen, dezenten Backsteinbauten rechts und links; weiter nach Holborn, vorbei an alten Giebelhäusern, die drei und mehr Stockwerke hoch die Straße säumten. Wieder rechts ab in die Southampton Road und dann waren sie in Bloomsbury. Cicely kannte diese Gegend nicht, obwohl sie ihr Vater früher einmal zusammen mit ihrem Bruder ins Britische Museum mitgenommen hatte.
Der Kutscher öffnete eine Luke hinter ihrem Kopf, was ihr einen Schrecken versetzte.
»Wie war doch gleich die Adresse?«
»Oh! Wellcome Passage. Ich weiß nicht, wo das ist …«
»Da muss ich nach dem Weg fragen.«
Er klingelte mit dem Geschirr, worauf das Pferd im Schritt ging, dann lenkte er die Droschke an den Gehsteig. Ein hünenhafter Polizist, massiv wie ein Denkmal, kam des Wegs.
»Wellcome Passage?«, fragte der Kutscher. »Wissen Sie, wo das sein könnte?«
»Das ist ja merkwürdig«, sagte der Constable. »Das ist schon der zweite Kutscher innerhalb von fünf Minuten, der mich das fragt. Dort drüben die Straße runter, erste rechts. Eine Droschke kann da aber nicht reinfahren.«
»Schönen Dank, Meister«, sagte der Kutscher, nahm die Zügel und schon fuhren sie in die angegebene Richtung.
Cicely richtete sich auf: Noch jemand
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