Der Tiger im Brunnen
Currygemüse mit Kartoffeln und zum Nachtisch gab es Eierkuchen mit Marmelade. Harriet weigerte sich, das Essen auch nur anzurühren. Sally fühlte sich unbehaglich. Sollte sie hart bleiben und eine Szene riskieren? Sollte sie ihr um des lieben Friedens willen erlauben, vom Tisch aufzustehen? Neben anderen Gefühlen empfand sie Scham angesichts der Tatsache, dass sie die Essgewohnheiten ihrer eigenen Tochter so wenig kannte. Sarah-Jane Russell hatte sich so zuverlässig und diskret um all diese Dinge gekümmert, dass es Sally gar nicht aufgefallen war, dass sie selbst in dieser Richtung gar nichts tat. Das merkte sie nun und es reute sie.
Sie bestand darauf, dass Harriet wenigstens den Eierkuchen aufaß, was dazu führte, dass sie noch bei Tisch saßen, als alle anderen schon gegangen waren. Nachdem das Mädchen es am Ende doch geschafft hatte, gingen sie wieder zurück auf ihr Zimmer. Auf der Treppe begegneten sie Mr Parker.
Er spähte erst verschwörerisch um sich, stieß sich die Zunge in die Wange und sagte dann, sich zu Sally vorbeugend: »Wenn Sie Lust auf eine Fleischpastete haben – gleich um die Ecke gibt es einen guten Metzger – ich hole mir manchmal eine Fleischpastete zum Abendessen – sagen Sie das aber nicht Mrs P – Ich könnte Ihnen eine mitbringen, wenn Sie möchten.«
Mit einem verschmitzten Lächeln ging er die Treppe hinunter.
Sally fand die Betten gemacht, und da Harriet gähnte, hielt sie es für angebracht, sie schlafen zu legen. Sie entdeckte die Taschentuchmaus auf dem Boden der Reisetasche, faltete sie noch einmal neu und gab sie Harriet. Die drückte sie fest an sich, schloss die Augen und schlief sogleich ein.
Sally ging nach nebenan ins Empfangszimmer, schloss die Tür und tat einen solch langen Seufzer, dass daraus ein Gähnen wurde. Dann setzte sie sich an den Tisch, holte ihr Heft hervor und begann zu schreiben:
Wieder umgezogen. Über die erste Pension kann ich nichts schreiben; zu schlimm. Hier ist es zwar schäbiger, aber dafür freundlicher. Oh, und dann das Geld … Für eine Stunde hatte ich es vergessen. Dass er es sich so unter den Nagel gerissen hat – und der Geschäftsführer der Bank hat ihn gehen lassen, hat es schon seit Tagen gewusst und keinen Gedanken darauf verschwendet, mich zu benachrichtigen –
Sie brach ab. Vor Wut kamen ihr die Tränen. Dann wischte sie sich die Augen und schrieb weiter:
Heulen hat keinen Zweck. Ich habe noch drei Pfund und sechs Shilling, Kost und Logis sind für eine Woche bezahlt.
Was zu tun ist:
Sofort:
1. An Margaret schreiben – Bote? Aktienverkäufe tätigen: Englisch-Ägyptische Gesellschaft, Beteiligung an kanadischer Eisenbahngesellschaft – Erlös auf ihr Konto gutschreiben. Oder Bargeld im Gürtel tragen.
2. An die Molloys schreiben – Baldwin.
Später:
3. Irgendwo eine Wohnung finden.
4. Sarah-Jane nachkommen lassen, damit sie mir hilft – kann keine Ermittlungen über Parrish anstellen, solange ich mich um H kümmern muss.
5. Herausfinden, warum das Ganze.
Zitternd vor Kälte, legte Sally den Bleistift weg. Erst jetzt merkte sie, dass sie ja ein Feuer machen könnte. Der Nachmittag draußen war grau, still und kühl, aber wenigstens war er draußen. Erstaunt stellte sie fest, dass es keine vierundzwanzig Stunden her war, dass sie sich mit Cicely im Teesalon getroffen hatte. Gestern zur gleichen Stunde hatte sie noch ein Zuhause, eine Tochter und Geld gehabt. Was war sie jetzt? Eine Frau auf der Flucht?
Sie machte Feuer im Kamin, wusch sich dann die Hände und begann auszupacken.
Der Teesalon
Nachdem Mr Parrish Sallys gesamtes Geld von ihrem Bankkonto abgehoben und es vorsorglich auf seiner Bank deponiert hatte, schickte er sich an, in sein Büro zu gehen.
Er schaute bei Rubinstein, dem Tabakhändler eine Etage tiefer, vorbei; er sah nach, ob Post für ihn da war; er begrüßte seine beiden Kanzleischreiber und nach einem Blick in die Runde setzte er sich an den Schreibtisch, um den Vormittag zu profitablen Geschäften zu nutzen.
Als sein vergoldetes Chronometer der Firma American Watch Company zwölf Uhr Mittag zeigte, nahm er Hut und Mantel und verließ das Büro. Schnellen Schrittes ging er erst den Strand und dann die Fleet Street entlang, kam an der St.-Pauls-Kathedrale und der Bank von England vorbei und gelangte nach Cornhill. Er genoss den Spaziergang. Er schwang beim Gehen die Arme und übte sich in Bauchatmung nach der Methode des Dr. Alver von der
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