Der Tiger im Brunnen
Welchen Namen tragen Sie in Ihrer jetzigen Inkarnation?«
Die Frage ging Sally unangenehm nahe. Sie überlegte kurz und erinnerte sich. »Oh – Mrs Jones. Und das ist meine Tochter Harriet.«
Harriet spielte mit den Pedalen des Fahrrads. Sally nahm sie auf den Arm, damit sie das Rad nicht zum Umkippen brachte. Mrs Parker blickte Harriet fest an, diese starrte ebenso zurück.
»Sie hat eine kluge Seele«, befand Mrs Parker. »Und Sie – Sie haben eine junge Seele. Doch sie haben Kummer, meine Liebe, Sie haben Geheimnisse. Kommen Sie hier entlang …«
Mrs Parker führte sie zwei Treppen empor. Das Haus war in unterschiedlichem Grade sauber. An manchen Stellen roch es stark nach Möbelpolitur, an anderen nach Zigarrenrauch. Auf dem zweiten Treppenabsatz schloss Mrs Parker eine grün angestrichene Tür auf.
»Das Grüne Zimmer«, sagte sie bedeutungsvoll. »Die Farben, die wir in der Sinnenwelt sehen, sind Emanationen des Unendlichen. Ihre Schwingungen wirken auf die Seele ein. Ihnen, Mrs Jones, sollte ich eigentlich Blau verschreiben, leider hat bereits ein Geschäftsmann das Blaue Zimmer für ein halbes Jahr gemietet. Sie werden aber auch im Grünen Zimmer keinen Schaden an Ihrer Seele nehmen.«
Das Zimmer war abgewohnt, aber gemütlich. An den Wänden hingen noch mehr grässliche Bilder – alle stellten imaginäre Landschaften dar, mit reichlich Grün darin.
»Äh – wie viel soll es kosten – «
»Eine Guinee die Woche«, sagte Mrs Parker. »Mit Kost siebenundzwanzig Shilling und sechs Pence. Kohle und Gas extra, Wäsche ist außer Haus zu geben.«
»Da wäre noch etwas. Meine Tochter« – sie setzte Harriet, die sich in ihren Armen zu winden begann, auf einen Stuhl und fuhr dann ruhig fort – »ja, es kommt vor, dass sie – «
»Hierhinein«, sagte Mrs Parker und öffnete die Tür zum Schlafzimmer. »Bettnässen«, fuhr sie fort, »gehört zu den kleineren Unannehmlichkeiten der physischen Existenz. Machen Sie sich deswegen keine Sorgen, meine Liebe. Wir legen einfach ein Wachstuch zwischen Matratze und Laken. Gefallen Ihnen die Bilder? Die hat mein Sohn Rodney gemalt. Er ist mein Führer in der geistigen Welt. Das Essen hier ist streng vegetarisch. Das wird Sie gewiss nicht stören, Mrs Jones. Serviert wird im Speisezimmer. Für wie lange wollen Sie mieten?«
»Oh, eine Woche. Wissen Sie, ich bin gerade erst in London angekommen. Wir müssen uns erst noch etwas Dauerhaftes suchen …«
»Verwitwet?«, fragte Mrs Parker mitfühlend.
»Harriets Vater starb, noch ehe sie geboren wurde.«
»Er sieht sie jetzt, meine Liebe, er sieht sie jetzt. Mittagessen in zwanzig Minuten. Lizzie wird unterdessen Feuer machen und die Betten beziehen. Ich muss Sie leider um die Miete für eine Woche im Voraus bitten.«
Sally zahlte den verlangten Betrag, einschließlich Kohle zum Heizen und Gas für die Beleuchtung. Zu ihrer Befriedigung entdeckte sie, dass die Wohnung neben spirituellen Vorzügen auch noch den Vorteil besaß, dass das nebenan liegende Badezimmer und WC ihr allein zur Verfügung stand, da sonst kein Mieter auf dieser Etage wohnte.
»Ich glaube, dass in allen Angelegenheiten des persönlichen Lebens Hygiene durchaus wünschenswert ist«, bekannte Mrs Parker oben an der Treppe und nickte einem schlaksigen jungen Mann zu, der gerade unten aus einer Tür trat.
»Das ist ganz meine Meinung«, pflichtete Sally bei.
Als die Wirtin gegangen war, kehrte Sally in das Schlafzimmer zurück und legte Hut und Handschuhe ab. Harriet spielte mit der Kleiderschranktür und betrachtete sich im Spiegel, der an der Türinnenseite angebracht war. Sally setzte sich auf das größere der beiden Betten und ließ sich, von Müdigkeit überwältigt, in die Kissen fallen.
Kaum eine Minute später, so schien es ihr, schüttelte ihr Harriet die Hand.
»Mama! Mama!«, rief sie.
An der Tür klopfte es. Mühsam richtete Sally sich auf und öffnete.
»Mrs Parker lässt ausrichten, das Mittagessen sei serviert«, meldete das Dienstmädchen gelangweilt.
»Danke«, sagte Sally. »Wir kommen gleich. Komm, Harriet, Hände waschen.«
Das Dienstmädchen schlurfte wieder davon. Sally zog Harriet rasch den Mantel aus, nahm ihr den Hut ab, kämmte ihr das Haar und stellte sie vor das Waschbecken, um ihr die Hände zu waschen. Dabei fiel ihr etwas ein: Sie holte die wenigen ihr verbliebenen Geldscheine aus ihrer Manteltasche und steckte sie sich ins Mieder. Dann eilten beide nach unten.
Das Mittagessen bestand aus
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