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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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anderes suchte nach der Wellcome Passage. Das war es also, was Miss Harrow so beunruhigt hatte.
    Die Droschke bog in die Seitenstraße ein und erreichte die Barriere vor der Wellcome Passage. Dort wartete bereits eine Kutsche.
    Cicely stieg aus und ging zum Kutscher. Irgendetwas stimmte da nicht. Sie wusste nicht, was es war, doch auch sie spürte plötzlich eine große Unruhe in sich aufsteigen.
    »Können Sie hier ein paar Minuten warten?«, bat sie. »Ich komme gleich mit einer anderen Dame wieder. Wir wollen zum Britischen Museum.«
    »Ich hätte erst mal gern mein Geld«, erwiderte der Kutscher.
    »Oh – Entschuldigung – wie viel macht es?«
    »Ein Shilling und sechs Pence.«
    Cicely kramte in ihrem Portemonnaie, fand die Münzen und gab sie dem Mann, der sie mit einem Stirnrunzeln entgegennahm. Sie errötete. Wie viel hätte sie ihm geben sollen? Was hätte Miss Lockhart getan?
    »Wenn Sie noch hier sind, wenn ich zurückkomme«, sagte sie kühn, »gebe ich Ihnen ein Trinkgeld.«
    Der Kutscher nickte. Cicely lief an der Schranke vorbei und erregte damit die Neugier des anderen Kutschers. Ob es wohl ein Rennen geben würde?
    Cicely fand die Nummer fünf und klopfte. Eine blasiert wirkende Hausangestellte mit sandfarbenem Haar öffnete ihr.
    »Wohnt hier eine Miss Lockhart?«
    »Lockhart? Oh – Sie meinen wahrscheinlich Jones. Mrs Jones. Oben warten schon zwei andere auf sie. Wollen Sie zu ihnen?«
    »Zwei andere?«
    »Zwei Herren. Gerade eben angekommen. Ein Verkehr ist das heute hier, wie am Piccadilly Circus. Wollen Sie nun rauf oder nicht?«
    »Ist sie denn nicht da?«
    »Sie ist mit der Kleinen spazieren gegangen. Wird wohl bald zurück sein. Also rein oder nicht? Es ist lausig kalt bei offener Haustür.«
    Das war ein Dienstmädchen, wie man es nicht alle Tage trifft, und auch das Haus entsprach nicht gerade dem, was sich Cicely als Bleibe für Miss Lockhart vorgestellt hatte.
    »Wissen Sie, wohin sie gegangen ist?«, fragte Cicely.
    »Keine Ahnung, außerdem ist mir kalt.«
    Cicely sah sich unentschlossen um.
    »Ich warte lieber draußen«, sagte sie schließlich.
    Die Hausangestellte zuckte nur mit den Schultern und machte die Tür zu.
    Cicelys Unruhe wurde noch größer. Die Männer da oben – sie waren mit der anderen Droschke gekommen und warteten nun, auf was eigentlich? Um Miss Lockhart und ihre Tochter mitzunehmen?
    Sie sah, wie beide Kutscher sie vom Ende der Passage her beobachteten: Der ihre machte ein säuerliches Gesicht, während der andere einen nervösen Eifer an den Tag legte.
    Sie schlug die Fäuste sanft aneinander und schaute in die andere Richtung. Der graue Nachmittag senkte sich über die schmale Gasse und erfüllte die Luft mit kaltem Nebel. Angenommen, Miss Lockhart wäre schon abgereist? Wie lange sollte sie warten? Wie lange würde der Kutscher warten?
    Doch keine Minute später bog Miss Lockhart um die Ecke. An einem Arm hatte sie einen Korb, am anderen ein kleines Kind. Sie wirkte erschöpft und erschrak, als sie Cicely erkannte.
    »Oh! Miss Lockhart! Gott sei Dank -«, rief Cicely aus.
    »Cicely, was machst du denn hier? Hat Miss Haddow meine Nachricht erhalten?«
    »Ja – sie hat mich geschickt, weil ein Klient – Mr Patten, Sie kennen ihn – in dem Augenblick kam, als sie gerade gehen wollte. Sie sagte, ich solle mich beeilen. Miss Lockhart, im Haus warten zwei Herren auf sie. Ich habe gedacht, es wäre besser, draußen zu warten, für den Fall, dass … Oh, und Miss Haddow kommt auch noch. Sie hat gesagt, Sie sollen im Britischen Museum warten und das Haus unbedingt verlassen. Ich vermute, dass sie bereits von den beiden Männern wusste. Warten Sie im Assyrischen Saal auf sie, Miss Haddow wird dorthin kommen. Ich habe eine Droschke …«
    »Oh … vielen Dank, Cicely. Dann machen wir es am besten so. Komm, Harriet, Liebling.«
    »Mama«, sagte das Kind und flüsterte etwas.
    Miss Lockhart nickte und gab Cicely wortlos den Korb. Mit grimmiger Miene trug sie das Kind in eine schmale Gasse zwischen zwei Häusern, raffte ihr Rock und Unterrock hoch und ließ die Kleine sich über der Gosse erleichtern.
    Cicely wurde schwindelig. Sie verging fast vor Scham und Verlegenheit. Einen Augenblick lang mochte sie gar nicht glauben, was sich da vor ihren Augen abspielte. Dass Miss Lockhart ein Kind hatte, war schon skandalös genug, aber dass sie es sein Geschäft auf der Straße verrichten ließ –
    Sie ahnte nicht, welche Überwindung Sally das kostete.
    Kurz darauf saßen

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