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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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die verhungern …« Sie hielt plötzlich inne und zuckte die Schultern. »Miss Robbins’ schroffe Art hat Sie vielleicht erschreckt«, fuhr sie fort, »aber sie ist gerecht. Sie kann einen ganz schön anbellen, doch geben Sie ihr keinen Anlass, auch mal zu beißen, das würde Ihnen schlecht bekommen. Sie hat, glaube ich, Arbeit für Sie heute Morgen. Wenn Sie Harriet hierlassen wollen, sie ist bei uns in guten Händen. Susan wird sich um sie kümmern. Überlegen Sie es sich.«
     
    Sally bereitete es Gewissensbisse, sich auch nur vorübergehend von Harriet zu trennen. Solange Parrish hinter ihr her war, wollte sie das Kind nicht aus den Augen lassen. Andererseits hätte sie Frau Dr. Turner ihr Leben anvertraut, nachdem sie gesehen hatte, wie diese Frau arbeitete.
    Wenn es überhaupt einen sicheren Ort gab, dann war es die Sozialmission in Spitalfields. Und es wurde Zeit, dass sie etwas für die Gastfreundschaft tat, die ihr hier entgegengebracht wurde.
    Eine Stunde später hatte sie Harriet in Susans Obhut gelassen und ging mit Miss Robbins hinunter nach Wapping. Sie nutzte die Gelegenheit, nach Mr Katz zu fragen.
    »Mr Katz ist ein Freund der Sozialmission. Er hat vielen Flüchtlingen geholfen – in erster Linie Juden, versteht sich. Er ist von Beruf Uhrmacher. Sein eigenes Haus ist zurzeit voll, sonst hätte er Sie wohl zu sich mitgenommen.«
    »Aber woher kennt er mich?«
    »Das weiß ich nicht. Er kennt viele Leute in den Londoner Sozialistenkreisen.«
    »Er sagte, wir hätten einen gemeinsamen Freund. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wer das sein könnte.«
    »Tja, ich auch nicht«, sagte Miss Robbins. »Da müssen Sie ihn schon selber fragen. Nun zu unserer Aufgabe für heute Morgen. Es geht um eine Frau, die am Rowley Court wohnt. Wir haben ihr letztes Jahr geholfen, als sie von ihrem Mann geschlagen wurde. Er war damals arbeitslos. Jetzt geht es wieder besser; er hat eine Arbeit gefunden und trinkt nicht mehr so viel. Wir legen Akten an, wie Sie sehen. Müssten wieder mal auf den neuesten Stand gebracht werden; das wäre eine Aufgabe für Sie. Also, die Frau hat sich an uns erinnert und bittet uns um Hilfe. Da ist es schon – links. Ich rate Ihnen, Ihren Rock nicht über den Boden schleifen zu lassen.«
    Miss Robbins faltete den Stadtplan zusammen, auf dem sie nachgeschaut hatte, und bog in eine dunkle Gasse. Es war ein heller, kalter Tag, doch auf dem Weg durch die hohen Backsteinmauern schien es Sally, als ob sich der Himmel über ihr verdunkelte und sie nie wieder frische Luft zum Atmen bekäme.
    Der Gestank war so unerträglich, dass sie den Ärmel schützend vors Gesicht hielt. Es war mehr als Gestank – es war eine unsichtbare Macht, die ihr fast physisch entgegentrat. Als sie um die Ecke in den Hof bogen, sah sie, woher der Gestank rührte. Die Latrine im Hof, die einzige für acht Mietshäuser, war verstopft und übergelaufen; im Hof stand eine riesige Jauchepfütze. Auf der Treppe eines Hauseingangs hockte ein Kind, nackt vom Nabel an abwärts. Es war nicht größer als Harriet, obgleich sein spitzes Gesicht an das eines alten Affchens erinnerte.
    »Mama«, rief es, als es die Besucher kommen sah, und verschwand mit kotverschmierten Füßen ins Innere des Hauses.
    »Raffen Sie Ihren Rock«, empfahl Miss Robbins, »und denken Sie nicht an Ihre Schuhe, die kann man wieder säubern. Und bilden Sie sich nicht ein, sich übergeben zu müssen. Machen Sie sich Notizen. Dafür habe ich Sie mitgenommen.«
    Sally schob ihren Rock nach oben und stopfte ihn sich ein gutes Stück unter den Gürtel, dann holte sie Notizbuch und Bleistift hervor.
    »Miss Robbins – schauen Sie, was hier los ist«, sagte die Frau, die an die Haustür gekommen war. »So ist es schon seit drei Wochen. Wir haben den Vermieter gefragt, aber der sagt bloß, das sei nicht seine Sache, dafür sei die Abwasseranstalt zuständig. Aber ich weiß nicht, an wen ich mich da wenden müsste und was ich überhaupt sagen sollte …«
    Sie war mager, hohlwangig und hatte unter einem Auge einen Bluterguss. Ihre Kleidung war nicht sauber, aber sorgfältig geflickt, und ihre Augen verrieten einen wachen Geist.
    Sally hatte Mühe, gegen die Übelkeit anzukämpfen. Dass es jemand länger als ein paar Minuten in dieser verpesteten Luft aushielt, geschweige denn hier wohnte, war unfassbar, und doch lebten hier Menschen. Sie riss sich zusammen, notierte, was die Frau sagte, und versuchte möglichst wenig zu atmen.
    Dann bestand Miss Robbins darauf,

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