Der Tiger im Brunnen
Gesellschaft, keine Einzelperson.«
»Der Name?«
Er tat so, als müsse er dazu erst im Buch nachschlagen, obwohl ihm der Name so bekannt sein musste wie sein eigenes Gesicht im Spiegel.
»Die East London Property Company, Madame.«
»Ist das eine rechtsfähige Handelsgesellschaft?«, fragte Sally.
»Wie bitte?«
»Ist das eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung? Existiert sie als juristische Person oder nicht?«, half Sally nach.
»Verzeihung, aber ich verstehe Sie nicht.«
»Nun gut. Wo hat die Gesellschaft ihren Sitz?«
Er machte einen verunsicherten Eindruck. »Angel Court, gleich nach der Throgmorton Street. Sehen Sie – «
»Schönen Tag noch«, unterbrach ihn Miss Robbins und rauschte davon.
Sally folgte ihr.
»Was hat es mit dieser rechtsfähigen Handelsgesellschaft auf sich?«, wollte Miss Robbins wissen.
»Wenn eine Firma als rechtsfähige Handelsgesellschaft geführt wird, dann ist sie eine juristische Person, so wie ein Mensch, und kann verklagt werden. Wenn sie es nicht ist, dann müssen sie die Personen ausfindig machen, die dahinterstecken und diese verklagen. Wollen Sie das?«
»Vielleicht später. Jetzt knöpfen wir uns erst einmal die Abwasseranstalt vor. Ich habe kein Geld, um mit Leuten zu prozessieren.«
Ich genauso wenig, dachte Sally, während beide schweigend weitergingen. Aber diesmal war die Stille zwischen ihnen erfüllt von einer freundschaftlichen, vertrauensvollen Atmosphäre. Sally hatte das Gefühl, eine Prüfung bestanden zu haben.
Der Sitz der hauptstädtischen Abwasseranstalt befand sich eine halbe Meile weit entfernt in Bishopsgate. Dort hatten sie es mit einem aalglatten Herrn namens Hanbury zu tun.
»Rowley Court – Rowley Court – East London Property Company … Ah, hier habe ich eine Notiz von einem Mr Cooper bezüglich einer Beschwerde … Ja, wir haben den Vorgang bestätigt. Schauen Sie, hier habe ich den Durchschlag.«
Er lächelte milde und zeigte ihnen das Papier.
»Und zu mehr konnten Sie sich nicht entschließen? Mr Hanbury, ich glaube, Sie nehmen jetzt am besten Hut und Mantel und kommen mit uns.«
Er schaute sie freundlich, aber verdutzt an.
»Wie bitte?«
»Haben Sie gesehen, in welchem Zustand sich der Hof befindet?«
Er hob beschwichtigend die Hände.
»Madame«, begann er. »Ich weiß nicht, wer Sie sind und welche Rolle Sie in dieser Angelegenheit spielen, aber Tatsache ist, dass solche Verhältnisse ausschließlich in die Verantwortung des Eigentümers fallen. Ich darf auch ganz offen sagen: Es gehört nicht zu meinen Pflichten, über notwendige Verbesserungen zu entscheiden. Die Abwasseranstalt hat ein Modernisierungsprogramm in Planung …«
»Ich rede ja gar nicht von Modernisierung, sondern lediglich von Instandsetzung. Und die ist dringend geboten. Die Menschen im Rowley Court müssen gegenwärtig knöcheltief durch Jauche waten. Wann werden Sie das endlich reparieren?«
Mr Hanbury runzelte die Stirn und zuckte hilflos mit den Schultern. Dann schaute er sich um und sagte mit gedämpfter Stimme: »Wissen Sie, das Problem ist eben, dass in solchen Gegenden viele Juden – Ausländer – leben, Leute aus der untersten Schicht. Deren Vorstellungen von Hygiene und Sauberkeit unterscheiden sich erheblich von den unsrigen. Ich verstehe sehr wohl, dass Sie von dem Anblick und dem Gestank schockiert waren, aber ich kann Ihnen versichern, dass diese Menschen ganz andere Zustände gewohnt sind. Ich könnte Ihnen Orte zeigen …«
»Das genügt«, unterbrach ihn Miss Robbins. »Wir werden Ihre Bemerkungen notieren und unserem Brief an Ihren Vorgesetzten beifügen. Eine Abschrift geht an den Parlamentsabgeordneten von Tower Hamlets. Guten Tag.«
Und wieder rauschte sie davon. Sally registrierte, ehe sie ging, noch die betont gleichgültige Miene des Angestellten.
»Was werden sie wohl tun?«, fragte sie, als sie auf dem Rückweg zur Sozialmission waren. »Werden sie den Abfluss reparieren lassen?«
»Ja, ich denke schon«, sagte Miss Robbins. »Aber Sie müssen die Briefe sofort schreiben und auf die Post bringen.«
»Hört man das eigentlich oft, diesen Vorwand mit den Juden?«
»Oh, sehr oft. Die Zahl der Einwanderungen nimmt seit etwa einem Jahr stark zu. Und es ist leicht, Neuankömmlinge für bestehende Missstände verantwortlich zu machen. Und manche von ihnen sind wirklich schmutzig und leben im Dreck, weil sie gar keine andere Wahl haben.«
Am Nachmittag kümmerte sich Sally, weil sonst niemand abkömmlich war, um
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