Der Tiger im Brunnen
etwas Glück kümmern sich die Heinzelmännchen heute Nacht darum. Verdünnisieren Sie sich jetzt lieber. Ach ja, und waschen Sie sich die Hände.«
Das tat Sally und wieder ertappte sie sich beim Gähnen. Wer war diese Frau Dr. Turner? Wer war Miss Robbins? Und wer war Katz? Kann jetzt keinen klaren Gedanken mehr fassen. Bringe keine Zeile fürs Tagebuch mehr zu Stande. Morgen früh sehe ich vielleicht klarer. Harriet ist jedenfalls hier. Und erst einmal in Sicherheit. Rück ein Stückchen, Hattie. Lass Mama schlafen.
Unter all den schäbigen Mietskasernen, düsteren Höfen und übel riechenden Gassen des Londoner East End gab es auch einige elegante Adressen. Zu ihnen gehörten Reihen oder ganze Straßenzüge großer alter Backsteinbauten, die einst hugenottischen Seidenwebern gehörten. Sie kamen als Verfolgte aus Frankreich nach London zu einer Zeit, als Bauleute noch keine hässlichen Häuser zu Stande brachten, selbst wenn sie es versucht hätten.
Eine dieser Adressen in Spitalfields (nur ein Steinwurf von der Sozialmission entfernt) war der Fournier Square. Das neunzehnte Jahrhundert hatte ihn kaum verändert. Man brauchte nur die zweirädrigen Mietdroschken wegzuschieben, den Metzgerlehrling zu verscheuchen und das Plakat, das Dr. Brands Rinderbouillonwürfel anpries, herunterzunehmen, und schon konnten hier Herrschaften mit Perücken und Degen herumspazieren oder in Sänften vorbeigetragen werden.
In Nr. 12 herrschte lebhaftes Treiben. Fast alle Fenster waren erleuchtet; aus der Küche im Untergeschoss drang das Geklapper von Geschirr und beißender Dampf verbreitete sich auf der Treppe. Von draußen sah man die Silhouetten von Dienern, die durch die Räume gingen, Lampen herbeitrugen, Vorhänge zuzogen und Möbel zurechtrückten.
Vor dem Haus hatte eine große Kutsche gerade ihren Fahrgast abgesetzt. Stallburschen verstauten einen großen metallenen Apparat unter dem Fahrgestell und gaben dem Kutscher dann das Zeichen, wieder wegzufahren. Einer schloss den Wagenschlag, der weit größer war als bei gewöhnlichen Kutschen, wie überhaupt das ganze Gefährt breiter und schwerer wirkte. Es war dieselbe Kutsche, die Jacob Liebermann in Riga und Bill mit Goldberg in Amsterdam gesehen hatten. Mit ihr war der Zaddik gerade in seinem Londoner Haus angekommen.
In der Diele nahm der Leibdiener dem heimkehrenden Herrn gewandt die dunkle Reisedecke vom Schoß. Ein Lakai hob ihm vorsichtig den Zylinder vom Kopf, öffnete dann mit bangem Blick den Umhang und zog ihn weg. Der Grund für seine Ängstlichkeit war das kleine Schattenwesen, der Dibbuk, das allen, die es sahen, einen großen Schrecken einjagte. Es saß auf der rechten Schulter des Gelähmten, hielt sich mit kleinen, spitzen Fingern an Haar und Ohr fest und keckerte boshaft. Es war ein grauer Affe.
Niemand sprach. Die einstudierten Bewegungen erfolgten in völligem Schweigen. Nachdem der Herr von Reisedecke, Hut und Mantel befreit war, öffnete ein Lakai die Tür, die in einen Garderobenraum führte, in dem ein Zuber mit warmem Wasser und parfümierter Seife bereitstand. Der Leibdiener schob den Rollstuhl durch die Tür und begann, Gesicht und Hände seines Herrn zu waschen. Dann trocknete er ihn mit warmen Handtüchern ab und läutete eine Glocke. Der Affe hockte auf der Handtuchstange und ließ die Hände des Leibdieners keine Sekunde aus den Augen.
Dann ging die Tür wieder auf und ein Lakai schob den Rollstuhl zurück durch die Diele in ein geheiztes, hell erleuchtetes Speisezimmer. Kaum waren sie am Tisch angekommen, sprang der Affe von der Schulter seines Herrn und huschte zwischen Gläsern und Tellern hindurch, um den silbernen Tafelaufsatz und das kristallene Salzfässchen herum, den Kerzenleuchter mit dem aufgestellten Schwanz streifend, bis zu einer großen Fruchtschale. Dort griff er sich einen Apfel und rannte an den Platz neben seinem Herrn, wo er seine Beute emsig knabbernd verspeiste.
Der Herr lachte. Sein Butler schenkte ihm Wein ein, während der Leibdiener Schildkrötensuppe aus einer Silberterrine in einen Teller schöpfte.
»Der Aufzug«, sagte der Herr. Seine Stimme war tief und hatte einen merkwürdigen Tonfall.
»Ja, Mr Lee«, antwortete der Butler sofort. »Er ist eingebaut und funktioniert. Wir haben ihn gestern ausprobiert.«
»Gut. Sie können jetzt gehen. Michelet wird mich bedienen.«
Der Butler machte eine Verbeugung. Der Leibdiener, ein feister Mann mit einem kleinen roten Mund, stellte den Teller mit der Suppe
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