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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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die Latrine zu inspizieren.
    »Meine Beschwerde ist nur dann wirkungsvoll, wenn ich genau weiß, worüber ich mich beschwere«, befand sie. »Wir wollen Fakten, je mehr, desto besser. Martha, kannst du dich erinnern, seit wann die Latrine verstopft ist? Und was du unternommen und wann du mit dem Vermieter gesprochen hast?«
    Sie fragte die Frau gründlich aus und gab sich erst zufrieden, als sie alles erfahren hatte, was sie über diese Sache wissen wollte. Dann berührte sie vorsichtig den blauen Fleck an der Wange der Frau und fragte: »Wie ist denn das passiert?«
    »Oh – ich bin im Dunkeln hingefallen und habe mich am Treppengeländer gestoßen. Ehrlich. Die Kerze war ausgegangen und ich war zu faul, noch einmal zurückzugehen, um Streichhölzer zu holen.«
    »Hat dein Mann immer noch Arbeit?«
    »Ja, Miss.«
    »Wie viel bringt er nach Hause?«
    »Letzte Woche waren es neunzehn Shilling, Miss. Zwanzig die Woche davor.«
    »Und damit kommst du aus?«
    »Gerade so, Miss. Wir sind immer noch besser dran als andere. Ich kann die Miete zahlen, das ist schon viel wert.«
    »In der Tat. Der Vermieter dürfte der gleichen Ansicht sein. Und die Kinder, wie geht’s denen?«
    »Alle kerngesund, Miss. Man könnte meinen, das hier würde sie krank machen. Aber bis jetzt fehlt ihnen nichts. Aber in der Straße gab es einen Fall von Typhus. Keine zwei Höfe weiter. Es wird nicht lange dauern, bis es auch zu uns kommt und dann …«
    »Hm. Ich werde alles tun, damit etwas geschieht. Übrigens, wenn dich dein Mann wieder schlägt, wirst du es mir doch sagen, oder?«
    »Natürlich, Miss«, sagte die Frau folgsam.
    Sie verabschiedeten sich und gingen. Sally fühlte sich schwach und war kurz davor, sich übergeben zu müssen. Miss Robbins öffnete ein Fläschchen mit Riechsalz und reichte es ihr wortlos. Danach fühlte Sally sich etwas besser.
    »Hoffentlich haben Sie alles mitnotieren können«, sagte Miss Robbins. »Sie können das später ins Reine schreiben, aber ich brauche es bald. Jetzt erst mal weiter.«
    Sie führte Sally unter den Brückenbogen der London-Blackwall-Eisenbahn hindurch und dann die Leman Street hinauf Richtung Whitechapel. Die Gegend war heruntergekommen, aber wenigstens stank es nicht so widerlich, obgleich auch hier allerhand Gerüche in der Luft lagen: Von links drang der schwere süßliche Duft von der Zuckerraffinerie herüber, von der anderen Seite kamen Rauchschwaden aus einer Fabrik für Tierknochenmehl.
    In der Colchester Street las Miss Robbins die Messingschildchen neben den Türen ab, bis sie das Gesuchte gefunden hatte. Dann trat sie, ohne anzuklopfen, ein. Sally folgte ihr mit dem Notizbuch in der Hand.
    In einem Kontor machte ein dicker Mann Eintragungen ins Hauptbuch, während sein hagerer Kollege Münzen zählte.
    »Cooper?«, begann Miss Robbins ohne Umschweife, »sind Sie für die Mietshäuser am Rowley Court zuständig?«
    »Wie bitte?«, fragte der Dicke. Sein Kollege hielt im Zählen inne, die Hand noch erhoben.
    »Das Abwasserrohr im Rowley Court ist verstopft. Eine Bewohnerin hat sich beschwert, und zwar am …«
    »Am Fünfundzwanzigsten des vorherigen Monats«, sekundierte Sally.
    »… und Sie haben seitdem nichts unternommen. Der Hof ist mittlerweile in einem skandalösen Zustand. Haben Sie die Angelegenheit der Londoner Abwasseranstalt gemeldet?«
    »Das habe ich wohl getan. Aber ich weiß jetzt nicht – «
    »Schriftlich? Kann ich den Durchschlag sehen?«
    »Nein, das können Sie nicht! Was fällt Ihnen überhaupt ein, hier hereinzukommen und Forderungen zu stellen – «
    »Was fällt Ihnen ein, Ihre Mieter der Gefahr von Krankheiten und Seuchen auszusetzen? Ganz zu schweigen von den Kindern, die in solchen Verhältnissen leben müssen. Was fällt Ihnen ein, von diesen Leuten Miete zu kassieren, ohne etwas gegen diese entsetzlichen Zustände zu unternehmen? Was glauben Sie, wie lange es dauern wird, bis Typhus und Cholera ausbrechen? Ich bin froh, Sie getroffen zu haben, Cooper. Jetzt weiß ich, an wen ich mich zu halten habe, wenn …«
    »Augenblick bitte, Madame – lassen Sie mich das erklären – das sind nicht meine Häuser, ich bin nur der Verwalter. Ich habe die Beschwerde der Mieterin wirklich an den Eigentümer weitergeleitet, Madame, und zwar gleich nachdem ich davon Kenntnis erhalten habe, aber alles andere übersteigt meine Kompetenzen. Die Verantwortung liegt ausschließlich bei der Abwasseranstalt …«
    »Wer ist der Eigentümer?«
    »Oh, es ist eine

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