Der Tiger im Brunnen
auf den Tisch und brach ein Brötchen in kleine Brocken. Der Affe legte den Apfel beiseite.
Mr Lee schnalzte leise mit der Zunge, worauf der Affe sich ein Stückchen schnappte, es patschend in die Suppe tunkte und dann in den Mund seines Herrn beförderte.
Er aß, und kaum hatte er geschluckt, brachten die kleinen, schwarznägeligen Hände schon den nächsten Brocken.
»Michelet, du warst nicht schnell genug mit der Serviette«, tadelte Mr Lee seinen Diener. Der Mann wurde blass, schüttelte rasch eine gestärkte weiße Serviette aus und tupfte damit vorsichtig das Kinn des Meisters ab, ehe er sie ihm um den Hals legte. Unterdessen hatte der Affe ein weiteres Stück Brötchen in die Suppe getunkt und umstandslos in Mr Lees Mund geschoben.
Nach einem halben Dutzend solcher Brocken sagte Mr Lee: »Iss jetzt, Miranda.« Der Affe steckte sich das nächste Stück selbst in den Mund und kaute, neben dem Teller sitzend, den Schwanz über der Tischkante, mit kleinen, gierigen Bissen.
Dann nahm der Diener den Teller fort und trug stattdessen eine Schale mit gedünstetem Butt in Sahnesoße auf. Der Affe wiederholte nun die Prozedur, tunkte Bissen in rasantem Tempo in die Soße, während der Diener bereitstand und Mr Lees Kinn abtupfte, sobald ein Tropfen danebenging. Das geschah nicht oft, denn Miranda war zum Kleckern zu schnell. Das Weinglas führte der Diener selbst an die Lippen des Meisters.
Auf den Fisch folgte ein Lammrücken, für die Pfoten des Affen in kleine Stücke geschnitten, dazu Gemüse, ebenfalls zerkleinert. Darauf Melone und Schnepfenbraten – mit Sardellen und Rührei auf Toast. Der Affe aß von allem, mit Ausnahme der Sardellen.
Nach dem Essen ein Glas Portwein, dazu ein paar Nüsse, die der Diener knackte und der Affe in der üblichen Weise in den Mund seines Herrn beförderte. Dann sagte Mr Lee: »Genug. Bring mich in den Salon.«
Miranda verstand sofort, sprang vom Tisch und klammerte sich an die Aufschläge seines Rocks; dann erinnerte sie sich an den Apfel, sprang noch einmal zurück, um ihn zu holen, und setzte sich Mr Lee auf den Schoß, wo sie sich hinkuschelte und emsig knabberte, während der Diener den Rollstuhl in den Salon schob. Als er behaglich am Kamin saß, Kaffee und Brandy serviert waren und der Affe in seinem Schoß sich zum Schlafen zusammengerollt hatte, äußerte Mr Lee einen weiteren Wunsch: »Lass den Sekretär kommen«, sagte er mit seiner tiefen, grollenden Stimme, worauf der Affe im Schlaf mit der Zunge schnalzte.
Der Leibdiener verbeugte sich und verließ den Salon. Eine Minute später kam er mit einem hochgewachsenen Mann wieder, der sein blondes Haar kurz geschnitten und nach preußischer Art nach oben frisiert trug. Er stellte eine Aktentasche neben sich ab, schlug die Absätze gegeneinander und verbeugte sich leicht.
»Willkommen in London, Mr Lee«, sagte er. »Hatten Sie eine angenehme Reise?«
»Guten Abend, Winterhalter. Ja, danke, alles gut verlaufen. Nehmen Sie Platz.«
Kaffee und Brandy standen für die Herren bereit und der Diener zog sich zurück.
Von der fremden Stimme aufgeweckt, setzte sich der Affe auf Mr Lees Schulter und warf dem Gast giftige Blicke zu. Der kümmerte sich jedoch nicht um ihn. Er saß kerzengerade da und hin und wieder hob er auf Mr Lees Bitte hin die Kaffeetasse oder das Brandyglas an die Lippen seines Arbeitgebers. Der Affe verfolgte jeden Zentimeter des Weges.
»Nun, Winterhalter, wie viel hat Parrish für mich eingetrieben?«, fragte Mr Lee.
»Seit Ihrem letzten Besuch, Mr Lee, habe ich siebentausendachthundertsechsundvierzig Pfund, sieben Shilling und drei Pence auf die Bank gebracht. Dazu kommt der Erlös aus dem Verkauf von Ostware nach Argentinien, ein Betrag von dreitausendvierhundert Pfund. Insgesamt macht das elftausendzweihundertsechsundvierzig Pfund, sieben Shilling und drei Pence. Die Ausgaben waren allerdings in diesem Quartal etwas höher, hauptsächlich wegen der Polizei. Mr Parrishs Kontaktperson, Inspektor Allen, musste leider den Dienst quittieren und – «
»Ich gehe davon aus, dass er nicht redet.«
»Wir kümmern uns darum, Sir.«
Mr Lee nickte. »Gut«, sagte er. »Nun zu anderen Geschäften. Ich habe eine nützliche Reise nach Russland gemacht. Dort bieten sich enorme Möglichkeiten und ich habe schon mit dem Organisieren begonnen. Der Fleiß und die Umsicht dieses Mr Parrish freuen mich sehr. Ich werde ihn mit einem Mehr an Verantwortung belohnen. Übrigens – wie steht es mit seinem
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