Der Tiger im Brunnen
Prozess?«
»Gerade gestern hat das Gericht ein günstiges Urteil gefällt. Günstig für ihn, versteht sich. Die Sache dürfte in Kürze erledigt sein. Ach ja – wir haben das hier erworben.«
Er griff in seine Aktentasche und holte einen kleinen, weichen Gegenstand heraus. Der Affe warf wütende Blicke darauf, doch Mr Lee säuselte leise, bis sich das Tier wieder beruhigt hatte. Harriet hätte ihn sofort erkannt: Es war Bruin, ihr Teddybär.
»Ah«, machte Mr Lee, »das müssen wir an einem sicheren Ort verwahren. Miranda ist eifersüchtig. Gut gemacht, Winterhalter. Wirklich gut. Nun zum russischen Geschäft. Hören Sie bitte genau zu und machen Sie sich ruhig Notizen. Die Sache ist komplex.«
Der Sekretär öffnete ein Notizbuch, zückte einen silbernen Stift und setzte sich zurecht. Der Affe bemerkte den blinkenden Silberschein des Stifts; seine harten schwarzen Augen verfolgten jede Bewegung, während die beiden Männer miteinander sprachen. Er sprang vom Lehnstuhl auf den Teppich, von dort zu den Vorhängen und dann auf den Kaminsims. Keine Sekunde blieb er still sitzen. Im roten Schein des Kaminfeuers sah er wie ein Flaschengeist aus, der im Palast des Fürsten der Finsternis spielte. Einmal kam er auch in die Nähe des Teddybären, aber Mr Lee knurrte sofort. Winterhalter brachte das Spielzeug außer Reichweite, als ob es für später aufgehoben werden sollte.
Wie spielt man mit Bauklötzen?
Als Sally am folgenden Morgen erwachte, hörte sie um sich herum Stimmen, Fußgetrappel und die üblichen Geräusche eines viel besuchten Hauses.
Sie hatte keine Ahnung, wie spät es wohl sein könnte. Harriet schlief fest und war immer noch trocken. Sally blieb noch eine Weile liegen und besann sich, dann stand sie auf und zog die Vorhänge zurück. Am Ende der schmalen Straße stand ein Kirchturm, dessen Uhr zehn vor acht zeigte.
Sie weckte Harriet, wusch sie und zog sie an und dann gingen sie hinunter. Dort suchten sie den Weg in die Küche, die der Mittelpunkt des Hauses zu sein schien. Dr. Turner war schon da und frühstückte an einem langen Tisch mit sechs oder sieben anderen, mehr oder weniger verwahrlosten Frauen. Die Hausgehilfin, die sie am Vorabend eingelassen hatte, briet gerade Spiegeleier. Mary, die Frau mit der Wunde am Kopf, war nicht am Tisch. Die Ärztin blickte auf und begrüßte Sally.
»Ah! Miss Lockhart! Nur heran an den Frühstückstisch. Hier ist Haferbrei und Toast und dort in der Kanne gibt es Tee – ja hallo! Wer kommt denn da?«
Harriet wurde vorgestellt, dann setzten sie sich. Die anderen Frauen schauten sie verwundert an, aber nur eine kurze Weile. Hier am Tisch herrschte eine demokratische Atmosphäre, die Sally behagte: Sie weckte die Erinnerung an die alten Tage in der Burton Street. Während sie den wässrigen Haferbrei und den angebrannten Toast aßen, erklärte Frau Dr. Turner, was es mit diesem Haus auf sich hatte.
»Miss Robbins hat eine Menge Geld aus dem Geschäft ihrer Familie geerbt – sie haben Schokolade oder Kakaopulver hergestellt – und damit vor fünf Jahren die Mission gegründet. Damals sollten fortschrittliche Ideen, Sozialismus, Trennung von Staat und Kirche und dergleichen hier im East End propagiert werden. Doch schon bald stellte sich heraus, dass es keine gut gemeinten Ideen waren, was die Leute hier brauchten. Deshalb machte sie das Haus zu einem Asyl, einem Ort, wo Frauen hingehen können, wenn sie sonst keine Bleibe mehr haben. Was mich betrifft, ich wollte zuerst Missionarin werden, können Sie sich das vorstellen? Aber dann habe ich von Miss Robbins gehört und mir das Haus angeschaut, und so bin ich hiergeblieben. Ich bin mir auch nicht mehr so sicher, was ich vom lieben Gott halten soll. Ich habe den Eindruck, er hat uns den Rücken gekehrt. Wir müssen uns hier erst einmal um die Körper der Menschen kümmern. Seelen können selbst auf sich aufpassen. Aber diese Frau da, sie braucht dringend Medizin, dann könnte sie nächste Woche noch am Leben sein und über ihre Seele nachdenken. Oder das Kind da, es braucht heute Nacht Schutz, damit sein Vater es nicht tot schlägt. Wenn es gelernt hat, einem Erwachsenen länger als eine Minute zu trauen, dann mag ihm jemand etwas von Jesus erzählen. Bis dahin aber wäre das reine Zeitverschwendung. So denke ich jedenfalls. Zugegeben, was wir hier tun, ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir tun wenig im Vergleich zu dem, was eigentlich getan werden müsste. Da draußen gibt es Tausende,
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