Der Tigermann
die Kali-Statue zu, bestieg ein niedriges Podium hinter ihr und löste einen der in Ton geformten Köpfe aus ihrer Halskette.
Dann enthüllte er das Objekt auf dem Tablett – einen Menschenkopf.
»Ein Verräter«, sing sangte er, als er den blutenden Kopf hochhielt, damit jeder ihn deutlich sehen konnte.
Dann flocht er ihn mit dem Haar in die Halskette.
Wäre der Diwan hiergewesen, hätte er gewußt, daß er keine weiteren Nachrichten mehr aus dem Tempel erwarten konnte. Denn der grausige Schmuck der Göttin war der Kopf seines Spions, Daseru.
»Noch ehe Kalipuja vorüber ist«, rief Saiva mit Donnerstimme, »wird Kali prangen in alter Pracht, wie in früheren Zeiten. Jeder Schädel ihrer Kette wird ein Menschenkopf sein, dessen Blut zu Ehren unserer Herrin der äußeren Finsternis fließt.«
Er blickte über die Andächtigen hinweg. »Nun, ist unser Kandidat bereit?«
Eine Trommel begann in aufpeitschendem Rhythmus zu dröhnen. Eine Flöte schrillte. Die Menge teilte sich, bildete einen Durchgang.
Ein kleiner Mann in weißem Hemd und weiten Beinkleidern bewegte sich fast schwankend durch die Gläubigen. Seine Augen glänzten in seltsam starrer Verzückung, sein Mund war zu einem breiten, schrecklichen Lächeln verzerrt.
Über seinen Schultern hing ein merkwürdiges Geschirr. Es ähnelte dem Zaumzeug eines Pferdes, dessen Steigbügel bis fast zu seinen Knien reichte. Die obere Hälfte des sattelähnlichen Gebildes war jedoch nicht aus Leder, sondern bestand aus einer sichelförmigen Klinge, die ihm gegen den Nacken drückte.
»Nun ist die Herrlichkeit der alten Zeit und der alten Zeremonien wahrlich wiedergekehrt. Nun beweisen wir wie früher unsere Väter und deren Väter unseren aus tiefsten Herzen kommenden Willen zur Buße. Ein Priester Kalis hat bereits der Göttin sein Leben geopfert. Nun will ein einfacher Sohn Kalis ihm nacheifern. Er wird sich in die gesegneten Hände unserer Herrin begeben. Er wird kein Leiden und kein Streben dieses Avatars mehr kennen. Für ihn gibt es nur noch den immerwährenden Frieden.«
Wie ein riesiger, schrecklicher Gott schien er sich über den Kandidaten zu erheben, der am ganzen Körper zitternd vor ihm, vor dem Altar stand.
Saiva stimmte Mantras an, in die seine Priester einfielen. Seine scharfen Augen beobachteten den Kandidaten wachsam, denn es war immer noch möglich, daß der Mann im letzten Augenblick vor der entsetzlichen Eigenopferung zurückschreckte.
Es war sein gutes Recht, es sich anders zu überlegen, aber es wäre ein schlechtes Omen.
Saiva verkürzte sein Gebet.
»Laßt geschehen, wie er es begehrt«, dröhnte er. »Mit unserem Segen und unserem Bedauern, nicht an seiner Stelle zu sein, laßt ihn uns in Kalis Arme schicken.«
Die Augen des kleinen Mannes flogen nach links und rechts, als erkenne er plötzlich seine Lage, als hätte seine Drogen-Verzückung ihn verlassen, als suche er nach einem Fluchtweg.
Die zwei Priester links und rechts beugten sich über ihn, und der Trommelwirbel wurde lauter, um seine möglichen Protestschreie zu verschlucken.
Etwas ungeschickt, denn dieser Ritus war seit vielen Jahren, ja seit Generationen nicht mehr ausgeübt worden, zwangen die Priester ihn, den Kopf zu senken und sich vor dem Altar und Kali zu verneigen.
Und während er sich tief verbeugte, steckten sie schnell erst den einen, dann seinen anderen Fuß in die Steigbügel, die sich nun in Bodenhöhe befanden. Zusammengekauert blieb er in den Bügeln stehen.
»Jetzt!« rief Saiva mit gewaltiger Stimme.
So, daß die Menge es nicht sehen konnte, versetzte einer der Priester dem Kandidaten einen heftigen Stoß in die Nierengegend, daß er vor Schmerz hochzuckte. Oder vielleicht hatte er schließlich doch noch den Mut für sein Puja gefunden.
Die rasiermesserscharfe innere Klinge des sichelförmigen Geschirrstücks ruhte genau zwischen zwei Halswirbeln, und als der Kandidat hochfuhr, drang sie ohne erkennbaren Widerstand in sein Fleisch.
»So geht ein wahrer Sohn Kalis in die Finsternis ein«, rief Saiva schallend. »Ehret ihn! Ehret ihn!«
Durch eine sorgsam ausgeklügelte Mechanik erloschen in diesem Augenblick alle Lichter, und ein kalter Wind pfiff über die Rücken der tief gebeugten oder ehrfürchtig am Boden kauernden Gläubigen hinweg.
Die Hände über dem feisten Bauch verschränkt, lächelte Saiva in heimlicher Genugtuung. So war es früher gewesen. So würde es auch in Zukunft wieder sein. Aber im nächsten Jahr würde es mehr als nur einen
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