Der Tigermann
Saiva sich zweifellos ausgedacht hatte.
Solange Mara sich in Trance befand, vermochte der Hohepriester ihrem Geist nichts anzuhaben, es sei denn, seine Fähigkeiten wären die eines Magus des höchsten Grades. Es war unvorstellbar, daß irgend etwas durch die Schutzwand dringen konnte, die ihren Geist nun auf einer Ebene dicht unter der des Astralen hielt.
Er hatte sie soweit geschützt, wie es ihm gegenwärtig möglich war. Und dadurch hielt er sich selbst jegliche Störung fern, die Saiva zweifellos durch sie auf ihn hatte übertragen wollen.
Im Tempel Kalis hatten die ersten Feierlichkeiten für Kalipuja bereits begonnen. Die Gaben häuften sich auf dem großen Altar. Die gewaltige Statue Kalis kauerte darüber. Wenn sie sich über die vielen, vom Mund abgesparten Geschenke freute, zeigte sie es nicht.
Die Akolyten hatten Hühner und Ziegen und Schweine geschlachtet, so daß bereits Bäche von Blut über den Tempelboden flössen und sich darauf ausbreiteten. Der ekelerregende süßliche Geruch drang in die Nasen der Andächtigen.
Im Augenblick waren sie gerade dabei, einen jungen Büffel zu töten. Seine grauschwarze Haut war dort, wo er auf den Boden gezwungen worden war, mit Blut befleckt, aber er hatte sich wieder auf die Beine gestemmt. Der Schein der Myriaden von Öllampen, die den Tempel beleuchteten, verlieh den Blutflecken eine esoterische Bedeutung, als wären sie Lettern, die von Geisteshand auf seine Haut gemalt waren.
Die langen Hörner stießen vor, als das Tier den Kopf senkte und sich trotz aller Anstrengungen der Akolyten nicht von der Stelle bewegen ließ. Sie versuchten ihn von hinten anzuschieben, während der Jungpriester bereits ungeduldig mit dem Opfermesser am Altar wartete.
Saiva war nicht anwesend. Diese unbedeutenden Opfer interessierten ihn nicht. Außerdem hatten sich seine Gedanken mit Wichtigerem zu beschäftigen.
Er hatte Elis Herausforderung bekommen und brütete nun darüber in seiner engen Zelle.
Der Gegenzug hatte ihn völlig unerwartet getroffen. Das war die letzte Taktik, mit der er gerechnet hätte.
Er kniete vor einer Miniaturstatue Kalis in einer Wandnische und bat sie um Erleuchtung. Vorbehaltungslos öffnete er seinen Geist der dunklen Göttin und wartete auf ihre Anweisungen.
Mara lag still, fast reglos auf dem schmalen Bett hinter ihm. Nur ihre Brüste hoben und senkten sich im Rhythmus ihres verlangsamten Atems. Ihr Geist hatte kaum noch eine Verbindung zu ihrem Körper, und sie würde keine Leiden, keine Torturen spüren, mit denen der Hohepriester sie zu quälen versuchen mochte.
In der Haupthalle kämpfte der junge Büffel immer noch gegen sein Geschick an. Mit einem plötzlichen Ruck befreite er sich von den Akolyten hinter sich und sprang mit einem Satz, der keine Möglichkeit zur Flucht zuließ, den Jungpriester an.
Es gab keinen Schutz gegen die gewaltigen Hörner. Sie bohrten sich in den Leib des Priesters, rissen ihn auf.
Mit übermenschlicher Anstrengung gelang es dem Jungpriester, sich aufrecht zu halten.
»Für Kali!« rief er, ein unbeschreibbares Lächeln, das seine Qualen verbarg, auf den Lippen. »Für Kali und die Finsternis.« Langsam taumelte er nach vorn auf den Altar und in die Ewigkeit.
Ein anderer Priester eilte zum Altar. Er bückte sich, hob das Opfermesser vom Boden und durchschnitt die Kehle des Büffels, der neben dem Toten stand.
Die Vorderbeine des Tieres knickten langsam ein, während sein Blut in einem weiten Schwall aus der aufgeschlitzten Kehle schoß, so daß es aussah, als brächte er Kali seine letzte Huldigung dar.
»Er kniet«, rief eine aufgeregte Stimme aus der Mitte der Andächtigen. »Er kniet vor der Göttin! Dies ist eine Nacht der guten Omen für die Kinder Kalis!«
Priester und Büffel lagen wie eng aneinandergeschmiegt und ihr Blut vereinigte sich auf dem Boden.
Die Erregung wuchs. Die Gläubigen zogen ihre Messer und fügten sich tiefe Wunden zu, daß ihr Blut zu ihren Nachbarn spritzte. Andere nahmen spitze Dolche und rannten sie sich durch die Wangen.
Keinem schienen die selbstzugefügten Verstümmelungen Schmerzen zu bereiten. Sie leierten weiter ihre Gebete herunter und wiegten sich im gleichmäßigen Rhythmus vor und zurück.
Saiva trat hinter dem Altar hervor und hob die Hand. So mächtig war sein Einfluß, daß die von Hysterie bewegte Menge plötzlich ruhig wurde.
Saiva winkte einem Akolyten, der nach vorne trat mit einem bedeckten Objekt auf einem silbernen Tablett. Er schritt feierlich auf
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