Der Tigermann
aus der eisernen und schmerzhaften Umklammerung zu befreien.
Hinter Eli erklang eine sanfte Stimme.
»Das genügt. Du wirst jetzt aufhören…«
Es folgte ein Mantra in einer Sprache, die Eli nie zuvor gehört hatte.
Wie ein Wunder löste der Tigermann die Pranken vom Hals. Hugo taumelte hoch.
Plötzlich warf die Bestie sich herum und sprang mit einem Satz in die Dunkelheit hinter dem Altar.
Eli drehte sich um. Hinter ihm stand Bapu, der Priester Ganesas. Bapu, der gebrechliche, halbblinde Greis, der dennoch die Macht hatte, den Tigermann von Terrahpur zu vertreiben. Er lächelte entschuldigend.
»Verzeih, mein Sohn, daß ich eingriff. Aber der Tiger ist ein Dschungeltier genau wie der Elefant. Und Ganesa ist der Elefant. Der Tiger muß ihm gehorchen.«
»Den Göttern sei Dank für Ihre Hilfe!«
»Allen Göttern, außer Kali, die es hier nicht mehr gibt. Auch ihr Haus wird nicht mehr lange bestehen. Er deutete um sich. »Sieh selbst…«
Das Feuer aus den umgestürzten Lampen hatte sich an dem verschütteten Öl entlanggefressen und eine riesige Öllache erreicht, die aus einem angeschlagenen Tonkrug genährt wurde. Die Flammen züngelten hoch und mußten jeden Augenblick die hölzerne Ausstattung des Tempels erreichen.
Der Mob hatte nun kein Interesse mehr an den Eindringlingen. Nur ein Gedanke bewegte ihn noch – sich vor den lodernden Flammen in Sicherheit zu bringen. Am Ausgang massierte er sich. Priester und Kalibachi zugleich drängten gegen das viel zu schmale Portal. Sie kämpften gegeneinander, brüllten, keuchten, trampelten die Gefallenen nieder. Ihre Panik verhinderte ein geordnetes Verlassen des Tempels.
»Es wäre angebracht, daß auch wir uns zurückziehen«, schlug der greise Priester milde vor. »Der Tempel wird nicht mehr lange stehen. Feuer ist die große reinigende Kraft – und es gibt hier viel zu reinigen.«
Grant schloß sich ihnen an.
»Tut mir leid«, bedauerte er, »aber ich konnte nicht auf ihn schießen, ohne auch Hugo zu gefährden. Wohin hat er sich denn verkrochen?«
Eli hatte fast den Grund ihrer Anwesenheit in Terrahpur vergessen.
»Er ist hinter den Altar gesprungen. Dort beginnt ein wahres Labyrinth von Gängen und Räumen durch den ganzen Tempelkomplex. Wir müssen jeden Raum, jede Zelle absuchen. Wir müssen ihn finden und vernichten!«
»So ist es«, pflichtete Bapu ihm bei. »Du mußt ihn vernichten, wie du seinen Herrn und Schöpfer vernichtet hast.«
Es schien Eli, als spräche tiefe Trauer aus der Stimme des Ganesa-Priesters.
»Und Kali?« fragte Eli. »Ihre Statue ist zerschmettert. Doch die Göttin selbst. Was ist mit ihr?«
Bapu lächelte sanft.
»Mein Sohn, ein Gott lebt nur in seinem Tempel, in seinen Priestern, in seinen Anhängern. Nun hat Kali keine Priester mehr, keine Gläubigen – und bald auch keinen Tempel. Darum ist Kali nicht mehr hier. Es ist ein Paradoxon, ja, das ist es. Wir werden uns später noch darüber unterhalten. Aber da du den Tigermann vernichten mußt, bitte ich dich, jetzt zu gehen, ehe es zu spät ist. Du brauchst nicht hier nach ihm zu suchen, er versteckt sich nicht. Er ist schon unterwegs nach seinem Heim.«
»Das weißt du? Wo ist sein Zuhause?«
Bapu schüttelte den Kopf.
»Das darf ich nicht sagen. Aber du wirst es finden. Das verspreche ich dir. Gehe jetzt, ich bitte dich. Ich bin ein alter Mann, ich werde dir langsam folgen.«
Hugo hob Mara auf seine Schultern, und die vier entfernten sich durch den Gang, der zum Hinterausgang des Tempels führte, wie Eli in seinem Astralzustand entdeckt hatte.
»Dort läuft er«, brüllte Eli. »Schießen Sie, Grant – schießen Sie schon, Mann!«
Aber die sich duckende und im Zickzack laufende Gestalt zu treffen, die sich gerade von den Schatten des Tempels am Hinterausgang löste, war gar nicht so einfach.
Der alte Vorderlader knallte und die Silberkugel folgte dem Fliehenden. Aber der erwartete dumpfe Einschlag war nicht zu hören. Grant fluchte und lud im Laufen nach.
Hugo rannte an Elis Seite, das Gewicht Maras auf seiner Schulter schien ihn überhaupt nicht zu stören.
»Er läuft auf den Palast zu«, keuchte Eli plötzlich, als sie durch die erstaunlich leeren Nebenstraßen hasteten. Nicht einmal die Bettler und Vagabunden, die sonst auf den Straßen schliefen, waren zu sehen. Es war, als hätte eine Vorahnung, daß das Unheil durch die Stadt schlich, die Straßen geräumt.
Hinter ihnen wuchs das Feuer empor und erhellte die Nacht. Sie konnten sogar das
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