Der Tod auf dem Nil
Mittelpunkt zu stehen.
Die neugierigen Blicke, die auf ihr ruhten, waren ihr sehr wohl bewusst und gleichzeitig auch nicht – diese Art Tribut gehörte zu ihrem Leben. Sie spielte Landgang, obwohl sie diese Rolle nur unbewusst gab. Die schöne reiche Braut der feinsten Gesellschaft auf Hochzeitsreise. Mit einem kleinen Lächeln und einer leisen Bemerkung drehte sie sich zu dem großen Mann an ihrer Seite. Er antwortete und der Klang seiner Stimme schien Poirot zu interessieren. Er bekam leuchtende Augen und kniff die Augenbrauen zusammen.
Jetzt ging das Paar dicht an ihnen vorbei und Poirot hörte Doyle sagen: «Wir versuchen die Zeit dafür zu finden, Liebling. Wir können doch einfach ein, zwei Wochen dableiben, wenn es dir hier gefällt.»
Dabei sah er sie an, begehrlich, bewundernd, ein bisschen unterwürfig.
Poirot musterte ihn nachdenklich von oben bis unten – die breiten Schultern, das sonnengebräunte Gesicht, die dunkelblauen Augen, die beinah kindliche Arglosigkeit in seinem Blick.
«So ein Glückspilz», sagte Tim, als sie vorbeigegangen waren. «Eine Millionenerbin, die weder Polypen noch Plattfüße hat, ist ein Volltreffer!»
«Sie sehen schrecklich glücklich aus», sagte Rosalie mit einem Anflug von Neid. Und gleich danach, aber so leise, dass Tim es nicht hörte: «Das ist nicht gerecht.»
Poirot jedoch hatte es gehört. Er runzelte verblüfft die Stirn und sah dann kurz zu ihr hinüber.
Tim erklärte gerade: «Ich muss noch ein paar Sachen für meine Mutter besorgen», zog den Hut und ging davon.
Poirot und Rosalie schlenderten langsam, immer wieder feilgebotene Esel abwimmelnd, zurück zum Hotel.
«Das ist also nicht gerecht, Mademoiselle?», fragte Poirot sanft.
Das Mädchen wurde rot und wütend. «Ich weiß gar nicht, was Sie meinen.»
«Ich habe nur wiederholt, was Sie gerade eben geflüstert hatten. O doch, das haben Sie.»
Rosalie Otterbourne zuckte die Schultern. «Das ist ja wohl auch wirklich ein bisschen zu viel für einen einzigen Menschen. Geld, gutes Aussehen, tolle Figur und –» Sie hielt inne.
Poirot vollendete: «Und Liebe? Was? Und Liebe? Aber Sie wissen doch gar nicht – vielleicht ist sie ja nur wegen ihres Geldes geheiratet worden!»
«Haben Sie nicht gesehen, wie er sie angeguckt hat?»
«O doch, Mademoiselle. Ich habe alles gesehen, was es zu sehen gab – und übrigens auch etwas, das Sie nicht gesehen haben.»
«Was denn?»
Bedächtig antwortete Poirot: «Ich, Mademoiselle, habe dunkle Schatten unter den Augen einer Frau gesehen. Ich habe eine Hand gesehen, die einen Sonnenschirm so fest umklammert hielt, dass die Knöchel ganz weiß waren…»
Rosalie starrte ihn an. «Und was wollen Sie damit sagen?»
«Ich will nur sagen, es ist nicht alles Gold, was glänzt. Ich will sagen, auch wenn diese Lady reich und schön ist und geliebt wird, irgendetwas stimmt trotzdem nicht. Und ich weiß noch etwas.»
«Ja?»
«Ich weiß», Poirot runzelte wieder die Stirn, «irgendwo und irgendwann habe ich diese Stimme schon einmal gehört – Mr. Doyles Stimme – und ich wüsste liebend gern, wo.»
Aber Rosalie hörte nicht mehr zu. Sie war stehen geblieben und zeichnete mit der Sonnenschirmspitze Muster in den Sand. Plötzlich brach es grimmig aus ihr heraus: «Ich bin abscheulich. Ich bin abscheulich. Ich bin einfach durch und durch ein Biest. Aber ich möchte ihr am liebsten die Kleider vom Leib reißen und auf ihrem hübschen, arroganten, selbstgefälligen Gesicht herumtrampeln. Ich bin eben eine eifersüchtige Zicke – aber so empfinde ich es. Sie ist so widerwärtig erfolgreich und gelassen und selbstsicher.»
Hercule Poirot schien ein bisschen verwundert über den Ausbruch. Er packte Rosalies Arm und schüttelte sie sanft und freundschaftlich. «Tenez – gleich fühlen Sie sich besser, weil Sie es ausgesprochen haben!»
«Ich hasse sie einfach! Ich habe noch nie jemanden auf den ersten Blick so gehasst.»
«Großartig!»
Rosalie sah ihn skeptisch an, verzog dann den Mund und fing an zu lachen.
«Bien», sagte Poirot und lachte mit.
Wie zwei alte Freunde spazierten sie zurück zum Hotel.
«Ich muss Mutter suchen», sagte Rosalie, als sie in die kühle, dämmrige Lobby traten.
Poirot ging in die entgegengesetzte Richtung, zur Terrasse mit Blick auf den Nil. Die Tischchen waren bereits für den Tee gedeckt, aber noch war es zu früh. Eine Weile sah er von oben auf den Fluss, dann bummelte er hinunter und durch den Garten.
Ein paar Leute spielten
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