Der Tod auf dem Nil
gehorchte. «Mais oui, Madame, wirklich ein wunderschöner Abend.» Er schenkte Mrs. Otterbourne ein höfliches Lächeln. Was für ein schwarzes Chiffon-Geschlinge, und dieser alberne Turbanstil!
Mrs. Otterbourne plapperte weiter mit ihrer hohen, nörgelnden Stimme. «Eine ganze Menge Berühmtheiten hier zurzeit, nicht wahr? Ich sehe uns schon alle in der Zeitung stehen. Schönheiten der ersten Gesellschaft, berühmte Roman –» Sie unterbrach ihre Rede für einen gespielt bescheidenen, kurzen Lacher.
Poirot spürte eher, als dass er sah, wie das Mädchen ihm gegenüber zusammenzuckte und den Schmollmund noch tiefer nach unten zog. «Sie haben derzeit einen Roman in Arbeit, Madame?», fragte er zurück.
Mrs. Otterbourne lachte noch einmal in ihrer selbstgefälligen Art. «Ich bin grässlich faul. Ich muss wirklich wieder dran. Meine Leser drängeln ja so schrecklich – mein Verleger auch, der arme Mann! Mahnungen mit jeder Post! Sogar telegrafische!»
Wieder spürte er, wie das Mädchen im Dunkeln zusammenzuckte.
«Ihnen kann ichs ja sagen, Monsieur Poirot, ich bin hier auch wegen des Lokalkolorits. ‹Schnee im Antlitz der Wüste› – so heißt mein nächstes Buch. Stark – gefühlvoll. Schnee – in der Wüste – schmilzt beim ersten flammenden Hauch der Leidenschaft.»
Rosalie stand auf, murmelte etwas und verschwand in den dunklen Garten.
Mrs. Otterbourne plapperte mit so nachdrücklichem Kopfnicken weiter, dass der Turban wippte. «Stark muss man sein. Und starker Tobak – das sind ja auch meine Bücher – darum gehts. Sie stehen auf dem Index in Bibliotheken – egal! Ich sage die Wahrheit. Sex – ja! Monsieur Poirot, warum hat alle Welt so viel Angst vor Sex? Er ist der archimedische Punkt des Universums! Haben Sie meine Bücher gelesen?»
«Leider nein, Madame! Sie müssen wissen, ich lese kaum Romane. Meine Arbeit –»
Mrs. Otterbourne fuhr energisch dazwischen. «Ich muss Ihnen ‹Unter dem Feigenbaum› geben. Ich glaube, Sie erkennen seine Bedeutung. Das Buch ist sehr unverblümt – aber es ist die Wirklichkeit!»
«Sehr freundlich von Ihnen, Madame. Ich werde es mit Vergnügen lesen.»
Eine Weile schwieg Mrs. Otterbourne, nestelte an der doppelreihigen langen Klunkerkette, die ihr am Hals baumelte, und sah nervös um sich. «Ach, vielleicht – ich springe rasch und hole es Ihnen.»
«Was ist denn, Mutter?» Rosalie stand plötzlich neben ihr.
«Nichts, Liebling. Ich will nur rasch hoch und ein Buch für Monsieur Poirot holen.»
«Den ‹Feigenbaum›? Ich hole es.»
«Du weißt doch gar nicht, wo es ist, Liebes. Ich gehe schon.»
«Doch, weiß ich.» Das Mädchen lief hastig über die Terrasse ins Hotel.
«Darf ich Ihnen gratulieren, Madame, zu einer sehr liebenswerten Tochter?», sagte Poirot mit einer Verbeugung.
«Rosalie? Ja, ja – sie ist recht hübsch. Aber auch sehr hart, Monsieur Poirot. Kein Mitgefühl, wenn man mal krank ist. Sie glaubt, sie weiß alles besser. Sie findet ja auch, sie weiß besser über meine Gesundheit Bescheid als ich.»
Poirot winkte einem Kellner, der gerade vorbeikam. «Einen Likör, Madame? Chartreuse? Crème de Menthe?»
Mrs. Otterbourne schüttelte heftig den Kopf. «Nein, nein. Ich bin sozusagen Abstinenzlerin. Sie haben vielleicht bemerkt, dass ich ausschließlich Wasser trinke – allenfalls Limonade. Ich mag den Geschmack von Spirituosen einfach nicht.»
«Dann darf ich Ihnen einen Zitronensaft bestellen, Madame?» Für sich selbst gab er dem Kellner einen Bénédictine in Auftrag.
Die Terrassentür schwang wieder auf und Rosalie kam mit einem Buch in der Hand zurück. «Hier ist es», sagte sie. Ihre Stimme war tonlos – erstaunlich tonlos fast.
«Monsieur Poirot hat gerade einen Zitronensaft für mich bestellt», erwiderte die Mutter.
«Und Sie, Mademoiselle, was nehmen Sie?»
«Nichts.» Rosalie merkte, wie schroff es geklungen hatte, und fügte hinzu: «Nichts, vielen Dank.»
Poirot nahm das Buch, das Mrs. Otterbourne ihm entgegenhielt. Es steckte noch im Originalschutzumschlag mit einer grellbunten Dame darauf, die mit einem kecken Bubikopf, scharlachroten Fingernägeln und im klassischen Evaskostüm auf einem Tigerfell thronte. Über ihr ragte ein Baum mit Eichenblättern und unglaublich bunten, riesigen Äpfeln empor. Dazu der Titel: «Unter dem Feigenbaum», sowie «von Salome Otterbourne». Der Klappentext auf der Innenseite schwelgte vor Begeisterung über den superben gewagten Realismus dieser Studie über das
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