Der Tod bin ich
sie die Russen seit vierzig Jahren unter Verschluss?
– Meiner Ansicht nach halten sie nichts unter Verschluss. Sie verfügen offensichtlich gar nicht darüber!
Fred blickte erstaunt auf David.
– Interessante These. Unsere Ermittlungen haben da etwas vollkommen anderes ergeben.
– Man unternimmt keine solchen Anstrengungen, um die Formel dann in einem Tresor verschwinden zu lassen.
– Vielleicht war die Sache zu gefährlich?
– Entschuldige, Fred, aber das ist ziemlich naiv. Ein Fortschritt in der Wissenschaft ist nie gefährlich, nur das, was man damit anstellt. Außerdem wäre dadurch eine Überlegenheit aufseiten der Russen geschaffen worden. Und genau darum ging es ihnen doch.
– Aber jede andere Version der Geschichte ergibt doch keinen Sinn. Wie sollte Oftenhain es angestellt haben, seine Arbeit nicht herausgeben zu müssen?
– Das aufzuklären ist euer Job!
Fred nahm einen Schluck Tee.
– Ganz direkt gefragt, David: Wenn du von dem ganzen Ansatz so überzeugt bist, warum hast du ihn nie selbst aufgegriffen und fortgeführt?
– Wer sagt denn, dass ich es nicht getan habe? Denk mal an Fermat und die anderen Rätsel, die uns aufgegeben wurden: Eine verloren gegangene Lösung wiederzufinden ist immer aufwendiger als ein Wurf ins Unbekannte, der aus vielen glücklichen Umständen heraus sein Ziel findet.
In diesem Moment begriff Fred, dass jede weitere Nachfrage Zeitverschwendung war. David lebte in der Tat in seiner ganz eigenen Welt aus Bücherhaufen und Papierstapeln. Die Hoffnung, dass daraus noch eine abschließende Entdeckung erwachsen könnte, hieltFred für verwegen. Das Außerordentliche war David nie gelungen, und das konnte er nicht verwinden.
2.
Der Schütze tauchte im Südwesten auf, Fuhrmann und Stier zeigten sich in Nordost, Perseus, Kassiopeia und Andromeda hatten das Zentrum eingenommen – über Ottenrain war der Herbsthimmel aufgegangen. Die Nacht war klar und wolkenlos, so gelang es mir auf Anhieb, vom Turmzimmer des Schlosses für Mira das gleichnamige Gestirn mit dem Teleskop zu erfassen: Mira, die Wunderbare, auch mit dem griechischen Buchstaben Omikron im Sternbild des Walfischs bezeichnet, verdankte ihren Namen der Eigenschaft, ihre Helligkeit zu verändern. Darüber hinaus wies sie als einziger Stern einen kometenartigen Schweif auf.
Inzwischen lagen wir in der Hängematte, die ich leicht am Schaukeln hielt. Draußen auf dem Balkon brannte der Rest einer Wachsfackel, die durch das Ostfenster warmes Licht hereinschickte. Mira war nach unserer Himmelsexkursion eingeschlafen und hatte ihren Kopf in das Kissen vergraben, das auf meiner Brust lag.
Letzte Woche konnte ich endlich das Marihuana ernten, das unten am Wassergraben wuchs. Die ersten Proben waren vielversprechend,
stark und lange andauernd
, hatte die Pflanzanleitung versprochen, die den
Silver-Haze
-Samen beilag. Das stimmte, Mira wurde so müde, dass es ihr sofort die Beine wegzog, auch ich war dösig. Ich genoss diesen Zustand, in dem sämtliche Störaggregate, die meinen inneren Frieden beeinträchtigten, ausgeschaltet waren. Vor sechs Wochen lebte ich noch sorglos vor mich hin, dann aber mit meinem Besuch bei Vierecker begegnete mir erstmals das Schicksal und bescherte mir einen Haufen Probleme. Der tatkräftige und in sich ruhende Bauer, dessen Bild ich in mir trug, war nicht mein Vater, sonderneiner, den ich trotz des vertrauten Umgangs, den wir miteinander pflegten, stets als andersartig empfunden hatte. Das Muttermal auf meinem Rücken und das widerborstige Haar verwandelten sich nun plötzlich in Erbstücke. Ich versuchte mich an die Vorstellung heranzutasten, was sonst noch von ihm auf mich gekommen sein könnte.
Mit all dem wäre ich besser klargekommen, wenn eine friedliche Übergabe stattgefunden hätte, aber er war ja eines gewaltsamen Todes gestorben. Weder kannte ich den Grund noch den Täter. Die dahinterstehenden Verwicklungen ahnte ich allenfalls. Meine Mutter, die Einzige, die mir über all das hätte Auskunft geben können, war noch immer wie vom Erdboden verschluckt. Dass sie Bescheid wusste, lag für mich auf der Hand, der Zeitpunkt ihres Verschwindens hatte nichts Zufälliges. Der Tod meiner Tante bedeutete einen Schicksalsschlag für sie, aber bedrohlich wurde er erst, als sie vom Mord an meinem Vater hörte.
Was würde da sonst noch alles ans Tageslicht kommen? Mein Leben wurde umgekrempelt, alte Gewissheiten galten nicht mehr. Ich fühlte mich angeschlagen. Trost fand ich bei
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