Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Tod bin ich

Der Tod bin ich

Titel: Der Tod bin ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Bronski
Vom Netzwerk:
Domino-Lichteffekt illuminiert, als wollten alle Synapsen nacheinander eine Präsenzmeldung absetzen. Als sich der rotierende Lichtkranz unter meinem Stetson beruhigt hatte, sah er mich kurz und durchdringend an.
    – Erzähl, sagte er.
    Wie einstudiert begann ich, ihm aus meinem Leben zu erzählen. Er unterbrach mich nicht, kicherte jedoch des Öfteren und schüttelte ungläubig den Kopf.
    Mir war das noch nie so bewusst geworden, wie viel Handwerk bei einer solchen Schilderung im Spiel war, man hämmerte, bog und schnitzte, bis das Teil ins Konstrukt des Ganzen hineingebastelt war. In meinem Zustand sah ich ins Innerste dieses ganzen Gewerks. All das ließ sich vollständig anders darstellen und nichts daran wäre gelogen. Man erzählte sein Leben, reihte mit
und dann, und dann, und dann
… Erinnerungspunkte aneinander und stellte Entscheidungen dar, die scheinbar unverrückbar wie Felsen in der Landschaft standen.
    An diesem Abend auf dem Trittbrett des Tourbusses widerfuhren mir seltsame Einstülpungen. Was ich sagte, wandte sich zum Anfang zurück, bildete dabei kurzzeitig die schillernde Schönheit einer Seifenblase und zerplatzte. Meine Auffassungsgabe wurde mehrspurig,ich wusste, dass der Alte neben mir gleich etwas sagen würde wie
Alles ist Schein!
und dass dieser Satz Blödsinn war, weil er sich in einer Welt ohne Gewissheiten, die er damit bezeichnen wollte, genauso in Nichts auflösen musste wie alles andere auch. Ich verfing mich in Endlosketten, in denen ich dasselbe immer wieder von vorne dachte. Wahrscheinlich hörte ich irgendwann zu erzählen auf, weil der Antrieb dazu verloren gegangen war. Meine Rede hatte sich von hinten her selbst verschlungen.
    – Bei den Pawnees gibt es ein Sprichwort, sagte der Alte.
    Ich brach in unbändiges Gelächter aus. Wenn man diesem ganzen Blödsinn, der sich in meinem Kopf verwirbelte, die Krone aufsetzen wollte, dann nur durch ein indianisches Sprichwort. Er nahm mir das nicht krumm, sondern lachte mit und ließ seine Haarglöckchen klingeln.
    – Nur der Pfeil, den du noch nicht abgeschossen hast, fliegt überallhin.
    Ich wusste, dass es für heute genug war, stand auf und reichte ihm zum Abschied die Hand. Er schnalzte mit der Zunge und zwinkerte mir mit seinem linken Auge zu.
    Seltsamerweise wurde diese Begegnung wieder lebendig, als ich mich mit den Papieren meines Vaters beschäftigte. Genau genommen verstand ich jetzt erst richtig, was mir damals begegnet war. Wir verfuhren mit unserem Leben wie die Physiker mit dem Objekt ihrer Messungen. Tatsächlich verhielten sich die unzähligen Partikel unserer Erinnerung wie die Elementarteilchen, mit denen sich die Quantenphysik auseinandersetzte. In dem flirrenden Gewimmel machten wir einzelne Punkt dingfest, je nachdem wie wir unsere gegenwärtige Position auffassten. Mit unserer Auswahl erzählte sich nur die eine Geschichte, alle anderen nisteten weiter im Verborgenen zwischen unseren Messpunkten. Dort blieben wir König, Bettler, Wohltäter, Verbrecher, hatten jede nur denkbare Affäre, waren alles,was je an uns gekommen war. Die Eindeutigkeit einer Lebensgeschichte ergab sich, weil man zu begründen versuchte, wie man dahin gekommen war, wo man jetzt stand. Und man beantwortete diese Frage mit einer Zielorientiertheit, als würfe man einen Tennisball. Wir wollten mit keiner anderen Idee von uns leben als der, dass es nur einen direkten Pfad dorthin gegeben haben konnte, wo wir uns aufhielten. Tatsächlich entschieden wir uns damit bestenfalls für die wahrscheinlichste Variante. Wenn wir einen Lebensfaden spannen, ordneten sich die frei gebliebenen Elemente zu einem Schwarm um ihn herum an und gestatteten sich jede Abweichung von dem moderat komponierten Durchschnitt.
    Ich verstand zum ersten Mal in der ganzen Tiefe, dass mich nicht nur das ausmachte, was ich getan, sondern ebenso sehr das, was ich gelassen hatte. Diesen Bereich konnte man nicht erschöpfend damit bezeichnen, dass sich in ihm alles sammelte, was nicht stattgefunden hatte: ein Topf voll Nichts. Das nur Gewünschte, das Abgewiesene, das Ferne, das nicht Ausgelebte oder nicht Gewagte verflüchtigte sich nicht vollständig, es blieb in den Nischen zwischen den Erinnerungspunkten lebendig. Sie konnten gar nicht so eng gesetzt werden, dass nicht ausreichend Platz für jeden vorstellbaren Fall blieb. Nach dem Durchlaufen eines Messpunkts fächerte sich das Erdenkliche erneut zu einer Wahrscheinlichkeitswelle auf.
    Selbst bei den großen Gegensätzen,

Weitere Kostenlose Bücher