Der Tod bin ich
die uns regierten, war es schwer, die abgewiesene Seite vollständig auszublenden. Natürlich war ich nicht tot, wenn ich lebte. Aber sicher war ich schon in einige Situationen geraten, in denen der Tod wahrscheinlicher als das Leben war. Ein Felsbrocken, der sich erst lockerte, als ich den Weg schon passiert hatte, ein Stolpern, das verhinderte, dass ich unter das Auto kam, eine Flugreise, die ich nicht antrat, ein Geisterfahrer, der rechtzeitig die Autobahn verließ. Ich hatte überlebt. Schon mit dieser Feststellung erkannte ich an, dass der Tod bereits in mir ruhte, erwar nicht ausgelöscht, sondern blieb dem Maß seiner Wahrscheinlichkeit nach erhalten und häufte sich in mir immer weiter auf. Ein Stück von mir war bereits gestorben.
Trug, Kunstgriff oder sogar Strategie? Ohne einen Lebensfaden wären wir gelähmt und handlungsunfähig, dem anderen, das sich da aufwarf, begegnete ich allenfalls, wenn ich sediert genug war, mein Leben anzuglotzen, statt es zu leben. Allerdings blieben solche Eindrücke nicht gänzlich folgenlos. Wie ein Reisender nahm ich jedes Mal einen Koffer mit in den Alltag hinüber.
Ein Druck auf meinem Brustkorb weckte mich. Mira hatte sich auf mich gerollt. Ich wälzte mich unter ihr hervor und hing noch eine Weile den Gedanken nach, die ich an der Schwelle zu meinen Träumen auflesen konnte.
5.
Seit Olegs Warnung war Aaron Malikow auf der Hut. Aber er machte sich keine Illusionen, er lebte in Berlin und war dort auf sich allein gestellt. Aber auch in Moskau hatten seine ehemaligen Mitstreiter nichts mehr zu melden, als Veteranen waren sie bestenfalls abgefunden und ihr Arm reichte nur noch bis zur nächsten Wodkaflasche. Er selbst gehörte zu den musealen Exemplaren eines Kalten Kriegers. Seitdem man ihn neunzehnhundertfünfundsechzig aus dem damaligen Westdeutschland abgezogen hatte, musste er über Beirut, Kandahar, Tunis und Kairo ständig wechselnde berufliche Stationen in Kauf nehmen. Auch deshalb lag in Deutschland nichts gegen ihn vor, selbst wenn man ihm übelgewollt hätte, war alles, was man ihm seiner früheren Tätigkeit wegen hierzulande zur Last legen konnte, längst verjährt. Die hiesigen Behörden waren verpflichtet, ihn wie jeden anderen Bürger auch zu schützen, aber schon der bloße Gedanke daran war lächerlich. Geheimdienstliche Aktionen waren noch niedurch die legalen Regeln eines Gastlandes begrenzt gewesen, zulässig war alles, wenn es sich nur vertuschen ließ.
Seine Stetschkin lag geladen bereit. Untertags hielt er sie in der Schublade seines Garderobenschranks verwahrt, in der Nacht war sie auf seinem Nachttisch platziert. Mit Oleg hatte er noch einmal Kontakt aufgenommen, einen Hinweis, was hinter der Nachfrage der Briten steckte, konnte er ihm nicht geben. Malikow war in Hinterhand geraten, und dieser Mangel peinigte ihn. Er hatte sich stets erfolgreich aus der Affäre gezogen, weil er diesen einen Zug vorausdenken konnte. Aber bis jetzt hatte sich noch kein Gesicht gezeigt, die Bedrohung blieb gestaltlos, und er war auf bloße Mutmaßungen angewiesen.
Malikow schob den Vorhang beiseite. Der Grunewald hatte sich einzufärben begonnen, das Grün der Nadelbäume war von gelben Laubkolonien durchsetzt, in die hinein vereinzelt rotbraune Tupfer gesetzt waren. Da fiel ihm eine Frau auf, aus der Siedlung kannte er sie nicht. Sie war bereits gestern in der Nähe seines Hauses gestanden. Sie wirkte wie eine Hausiererin oder eine, die für wohltätige Organisationen sammelte, war aber seltsam unschlüssig. Wieder stand sie vor dem Gartentor. Vielleicht suchte sie ein Namensschild. Er hatte jedoch keines. Dann klingelte sie.
Malikow nahm die Frau auf dem Monitor seiner Überwachungsanlage in Augenschein. Ihr Haar war zu einem Knoten zusammengesteckt. Der graue Mantel war aus dickem Lodenstoff. Er entdeckte nichts an ihr, was ihn hätte misstrauisch machen können. Dennoch holte er die Waffe aus der Schublade und schob sie in die Tasche seiner Hausjacke.
– Ja bitte?
– Ella Senoner.
Malikow stockte. Er vergaß, den Finger vom Knopf der Gegensprechanlage zu nehmen. Der Lautsprecher übertrug von draußenein Rauschen. Seine Verwunderung war groß, noch größer aber die Erleichterung, dass endlich eine Person aus dem Dunkel aufgetaucht war. Er betätigte den Türöffner.
6.
Das Flugzeug startete pünktlich, ruhig glitt es nach Überquerung des Kanals über eine sauber abgezirkelte Landschaft dahin. In Fred stiegen erneut Zweifel hoch, ob er nicht
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