Der Tod bin ich
erneuten Wechsel genarrt, eine chromatische Auflösung in eine andere Tonart, sodass man sich gewissermaßen durch den Katalog fast aller in die Höhe geschraubt habe. Das Ende sei im Prinzip offen, sie hätten sich aber entschlossen, es nach der vierten Wiederholung enden zu lassen. Schon des großen Probenaufwands wegen habe man noch weitere öffentliche Aufführungen geplant und könne dann bei solchen Gelegenheiten die Komposition ausführlicher zur Geltung bringen. Ich drückte ihm anerkennend die Hand, denn alles, was ich von seinen weitschweifigen Erklärungen verstand, war, dass er Zuspruch für seine Bemühungen erhalten wollte.
Eine Woche später war Eulmanns Leichnam von der Gerichtsmedizin freigegeben worden. Die Nacht über blieb er in der Kapelleaufgebahrt, wo wir uns am anderen Morgen zu der Trauerfeier zusammenfanden. Mit etwa dreißig Personen blieb der Kreis überschaubar. Verwandte existierten keine, aber einige aus dem Dorf waren gekommen, die mit Eulmann beruflich zu tun gehabt hatten. Die erwachsenen Rothenbergs waren vollzählig erschienen. Neben Leo und seiner Frau hatte man auch den alten Baron Ignaz aus dem Pflegeheim dazugeholt. Leo erzählte, bei der Nachricht von Eulmanns Tod habe sein Vater nach langer Zeit zum ersten Mal wieder reagiert. Er habe geweint und darauf bestanden, an der Beerdigung teilzunehmen. Dies allerdings blieb der einzige lichte Moment. Bei der Feier lächelte er dann beständig und salutierte hin und wieder, als gelte es eine Parade abzunehmen. Später bedankte er sich mit Handschlag beim Pfarrer für das bewegende Gedenken.
Vier Sänger des örtlichen Musikvereins boten, auf dem Harmonium begleitet von Rasso Hambichl, den Kanon dar. Das Seltsame bei Eulmanns Stück war, dass es auf mich zu Anfang sehr konstruiert, fast seelenlos wirkte. Ich hatte das Gefühl, in das Innere eines Uhrwerks zu blicken. Nach einer Weile spürte ich jedoch, wie mein Widerstand gegen die Musik schwand und sie einen starken Sog entwickelte. Der Kanon gewann eine Wohlgestalt, die mir zunächst musikalischen Genuss verschaffte und mich dann in einen Zustand geraten ließ, in dem ich meine Umgebung vergaß und von Erinnerungen überschwemmt wurde, die weit in meine Jugend zurückreichten.
Ich sah mich einen Weg bergauf marschieren, in dem ich schließlich den Aufstieg zur Rettachalm erkannte. Ich war dorthin unterwegs, um meiner Mutter beim Arbeiten zu helfen. Im Mai wurde unser Vieh hochgetrieben und blieb bis zum September dort oben. Diesmal jedoch ging ich an der Abzweigung statt zu unserer Alm zum Ochskopf hinüber. Dort stand eine Bank, von der aus ich einen Blick auf die baumlosen Grasmatten hatte. Mir gegenüber erhob sichsteil geböschtes Waldgebirge, das in eine scharfkantige Felslandschaft überging und von einem vielfach gezackten, schneebedeckten Grat abgeschlossen wurde. Die Sonne sandte letzte kräftige Strahlen hinter der Bergspitze hervor und zog sich in das angrenzende Selltal zurück. Schließlich umgab sie die Gipfel mit einer zart rosafarbenen Aura, die mit dem klaren Blau des Himmels in Kontrast trat. Dieser Blick und dieser Eindruck hatten sich hier schon seit Jahrtausenden geboten, nur für mich wirkte das frisch und neu.
Ein Schwindel erfasste mich, aber das mochte auch von dem Weihrauch kommen, der die Kapelle erfüllte. Ich hielt mich am Kirchengestühl fest.
Wer war ich eigentlich, der das so empfand, und was unterschied mich von denen, die dasselbe vor mir gesehen hatten? Ich trieb auf der Oberfläche der Zeit, in deren Tiefe Begegnungen und Generationen versunken waren, die jedoch eine zufällige Kette bildeten, welche dazu geführt hatte, dass zwei ein Kind zeugten und es Tino nannten. Hätte mein Vater meiner Mutter eine Stunde später beigewohnt, wäre das auch ich geworden oder ein anderer, der an meiner statt auf dieser Bank oder hier in der Kirche säße? Vielleicht war es einerlei, und wir unterschieden uns nicht voneinander? Dann aber war auch alle Besonderheit anderen gegenüber erloschen.
In diesem getrübten Zustand, in dem ich mich mit allem verbunden fühlte, erlebte ich schmerzhaft wirklich, aber unendlich verzögert, als habe sich das Geschehen durch zähe, gallertartige Zeitschichten hindurchzuarbeiten, wie sich die Kugel Eulmanns Hinterkopf näherte, auf das Schädelbein traf, es splittern ließ, durchschlug, im weichen Inneren seines Hirns an Geschwindigkeit verlor und schließlich stecken blieb.
Endlich endete die Musik, und ich schrak
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