langsam, Zentimeter für Zentimeter, mit der Stuhllehne nach oben zu schieben. Und tatsächlich, mit einem Ruck kippte der Stuhl nach vorne und landete auf allen vier Beinen. Jasmin atmete tief durch. Es war nur ein kleiner Erfolg, aber immerhin lag sie nun nicht mehr auf dem Boden. Doch wie sollte sie hier herauskommen? Ihre Hände waren auf dem Rücken gefesselt, keine Chance, sie freizubekommen. Soweit sie das in der Dunkelheit feststellen konnte, war nirgendwo ein scharfes Teil zu sehen, bei dem sie, wenn es in der richtigen Höhe lag, vielleicht die Fesseln losschaben konnte. Jasmin dachte über die Männer nach, die sie hierher verschleppt hatten. Ihre Stimmen hatte sie nicht erkannt, und von den Gesichtern war wegen der Kapuzen, die sie trugen, ohnehin nichts zu sehen gewesen. Sie versuchte sich zu entsinnen, ob ihr sonst noch etwas aufgefallen war, an der Kleidung, an irgendetwas. Doch da war nichts, abgesehen davon, dass sie das Gefühl hatte, selbst wenn sie die Männer schon einmal gesehen hätte, würde ihr das auch nicht die Freiheit bringen. Während Jasmin grübelte, sich umsah und an Stefan dachte, öffnete sich plötzlich die Tür. Einer der Männer trat ein, er trug wieder eine Kapuze mit zwei Augenschlitzen und einer Öffnung für den Mund. Sie konnte nicht abschätzen, ob es derjenige war, der sie vorhin geschlagen hatte. Sie fürchtete sich – würde er sie wieder strafen, weil sie sich selbst aufgerichtet hatte? „Frau Köpperl, es tut mir sehr leid, das war ein Riesenirrtum. Sie können wieder gehen. Das heißt, ich binde Sie jetzt los, denn sonst können Sie natürlich nicht gehen.“ Sein Zynismus fiel bei ihr nicht auf fruchtbaren Boden. „Was heißt, es tut Ihnen leid – erst schlagen Sie mich halb tot, und jetzt tun Sie so, als wäre nichts geschehen!“ Unterdessen war der Mann hinter den Stuhl getreten, um ihre Handgelenke zu befreien. Erst jetzt spürte sie, wie die Stellen schmerzten, an denen das Seil an der Haut geschabt hatte. „Wir haben Vorsorge getroffen, das Sie uns nicht wiedererkennen und uns auch nicht finden: Wir werden Ihnen jetzt die Augen verbinden und Sie aus dem Haus führen. Dann setzen wir Sie in einen Wagen, und alles Weitere sehen Sie ohnehin selbst.“
Jasmin konnte es nicht glauben. Der Mann, der so gewalttätig war, oder vielleicht war es auch sein Kumpel, sprach jetzt ganz freundlich zu ihr, absolut nichts Bedrohliches lag mehr in seiner Stimme. Er nahm sie am Arm, holte aus seiner Sakkotasche ein schwarzes Tuch und band es ihr um die Augen. Dann führte er sie aus dem Raum, Jasmin trippelte ganz vorsichtig, um nicht zu stolpern, er machte sie sogar auf die drei Stufen vor der Haustür aufmerksam, öffnete die Autotür und legte ganz vorsichtig seine Hand auf ihren Kopf, um sicherzugehen, dass sie beim Einsteigen nicht anstieß. Er stieg neben ihr ein, Jasmin streckte ihre Hände aus und erkannte an der Rückenlehne des Vordersitzes, dass sie beide hinten saßen. Der Fahrer betätigte den Starter und sie setzten sich in Bewegung. Sie hatte das Gefühl, bergab zu fahren, wieder war es eine kurvige Straße, aber nach nur wenigen Minuten blieben sie stehen. „Wir lassen Sie jetzt aussteigen, aber Sie nehmen die Binde nicht ab. Dann fahren wir los, und gleich danach wird ein Taxi kommen, in das Sie dann einsteigen. Sagen Sie dem Fahrer, wohin Sie wollen, ach ja, das Tuch können Sie dann wieder abnehmen.“ Jasmin stieg aus, der Fahrer gab Gas, und als sie das Gefühl hatte, sie seien weit genug weg, öffnete sie den Knoten des Tuches am Hinterkopf. Das Tageslicht blendete sie so sehr, dass sie nur die Silhouette eines weit entfernten Autos sah, wie es gerade hinter einer Biegung verschwand. Von der anderen Seite kam fast gleichzeitig ein Taxi heran. Es blieb stehen, der Fahrer rollte das Seitenfenster herunter, senkte den Kopf so, dass er ihr ins Gesicht blicken konnte und fragte: „Frau Köpperl? Steigen Sie ein!“
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[email protected] Das Abendessen war schon seit langer Zeit vereinbart: Die beiden Familien Krimnick und Polugren hatten bisher einfach keinen gemeinsamen Termin zustande gebracht – immer war irgendetwas dazwischen gekommen. Bob Polugren war ohnehin die meiste Zeit im Ausland, die letzten zwei Jahre in der Ukraine: Angeblich sollte er dort den Beamten beibringen, wie ein Rechtsstaat funktioniert, doch es gab auch Gerüchte, er sei in Wirklichkeit ein CIA-Agent, der dorthin versetzt wurde, um die USA über