Der Tod fährt Riesenrad - Kneifl, E: Tod fährt Riesenrad
Neugier, oder besser gesagt, den detektivischen Spürsinn seiner Großmutter geerbt, sondern auch Tante Vera. Sie wusste über nahezu alles Bescheid, was am Hof vor sich ging, obwohl sie im Gegensatz zu ihrer Mutter nicht stundenlang mit einem Spiegel vorm Fenster saß. Außerdem las sie ebenso gerne Kriminalromane wie er, vor allem die aufregenden Geschichten ihrer Freundin Auguste Groner.
Vera von Karoly schrieb für die Österreichische Illustrierte, die der Mann von Auguste herausgab, und für andere anspruchsvolle Zeitschriften. In ihren Artikeln engagierte sie sich vor allem für den Zugang von Frauen zu den Universitäten und für die Einführung des Frauenwahlrechts. Da sie mit dem journalistischen Schreiben kaum etwas verdiente, hatte sie sich noch andere Arbeit gesucht. Mittlerweile konnte sie sehr schnell tippen und schrieb in Heimarbeit oft nächtelang die Dissertationen fauler, aber wohlhabender Studenten ab. Gustav wusste, dass seine kluge Tante diese dürftigen Machwerke nicht nur abtippte, sondern nach bestem Wissen und Gewissen korrigierte. Auf ihrem Schreibtisch stapelten sich philosophische und historische Fachbücher.
Da Tante Vera nicht aus ihrem Zimmer kam, als Josefa mit dem Geschirr herumzuklappern begann, warf er einen Blick auf die Taschenuhr, die er von seinem Großvater geerbt hatte, und ging, ohne zu frühstücken und ohne sich zu entschuldigen, hinunter in die Stallungen, um nach dem neuen Untermieter Ausschau zu halten.
Der Fiakerbesitzer, für den Edi arbeitete, hatte das Privileg, seine Kutsche und die Rösser in den Hofstallungen einstellen zu dürfen, da sein Vater in den Ställen gearbeitet und er dessen Dienstwohnung geerbt hatte. Gustav konnte seinen Nachbarn nicht leiden. Dieser Franz Ferdinand Meister trug dieselbe Barttracht wie der Kaiser und benahm sich, als wäre er der Stallmeister höchstpersönlich.
Edi, der vor dem Tor herumlungerte, schien hocherfreut zu sein, als Gustav ihn bat, ihn in den Prater zu chauffieren.
„Zuerst muss ich auf einen Sprung ins Café Schwarzenberg.“
Gustavs Laune besserte sich, als sie an diesem strahlend schönen Sommertag die Ringstraße entlangfuhren. Die Pferde trabten, der Wagen rollte dahin und eine glänzende Fassade nach der anderen zog an ihnen vorbei.
Die fünf Stockwerke hohen Gebäude am Ring waren reichlich mit Skulpturen und Stuck geschmückt, korinthische und dorische Säulen, liebliche Karyatiden … Bei der ornamentalen Gestaltung der Fassaden hatten die Ringstraßenbarone keine Kosten gescheut. Einige Häuser waren bis hoch hinauf vergoldet. Unwillkürlich musste er an die goldverzierten Plafonds im Palais Schwabenau denken. Mächtig breit, ja kolossal und bombastisch wirkte der ganze imperiale Pomp. Alles Imitation. Nichts Neues, nichts Geniales, dachte Gustav. Nur der Schein zählt. Beim Anblick all der luxuriösen Geschäfte und prachtvollen Hotels gab er sich dann doch süßen Tagträumen hin. Sah sich mit Margarete in einer der elegant ausgestatteten Suiten des Hotel Imperial frühstücken, mit ihr Arm in Arm über die Kärntnerstraße flanieren und bei einem Juwelier goldene Ringe kaufen …
Vor dem imposanten Gebäude der Oper überquerte der Fiaker die Straßenbahngleise. Gustav erhaschte einen Blick auf den Stephansdom, der aus der Häusermasse in den Himmel emporragte. Leider war der eine Turm eingerüstet. Er hatte den Stephansdom noch nie ohne Gerüst gesehen. Trotzdem träumte er sogleich von der Hochzeitszeremonie, sah Margarete in einem weißen, eng anliegenden Kleid und mit einem meterlangen Schleier auf dem Haupte mit ihm im schwarzen Frack vor dem Altar stehen …
Es herrschte viel Verkehr. Edi trieb die Pferde trotzdem an, als gelte es, ein Wettrennen zu gewinnen. Gustav verstand nicht, was der junge Mann seinen Kollegen hin und wieder zurief. Die Fiaker und die Droschkenkutscher machten sich durch merkwürdige Schreie, die garantiert nur sie selbst deuten konnten, bemerk-bar.
„Fahr langsamer“, befahl Gustav ihm, da er an den gestrigen Unfall denken musste.
Die neue Ringstraße war gut gepflastert. Die Steine waren glatt und regelmäßig verlegt worden, dennoch fühlte er sich wie gerädert, als er vor dem Café Schwarzenberg ausstieg.
Da keine Nachricht für ihn hinterlassen worden war, setzte er sich erst gar nicht an seinen Tisch, sondern trank einen Kleinen Schwarzen im Stehen an der Theke und plauderte kurz mit dem Marqueur.
„Und jetzt zur Vermählungswiese“, sagte er zu Edi, als
Weitere Kostenlose Bücher