Der Tod fährt Riesenrad - Kneifl, E: Tod fährt Riesenrad
„versunkene Kiste“ bezeichnet wurde, wenn nicht schön, so doch imposant. Diese bösartige Kritik der Wiener hatte einen der Architekten des neuen Opernhauses, Eduard van der Nüll, in den Selbstmord getrieben. Sein Freund und Kompagnon Sicard von Sicardsburg war zehn Wochen danach einem Herzinfarkt erlegen. Beide Architekten hatten die Fertigstellung ihres Bauwerks nicht mehr erlebt. Dabei waren sie unschuldig an der Versenkung des grandiosen Neorenaissancegebäudes gewesen. Die Ringstraße vor der Oper war von irgendwelchen anderen Idioten nach Baubeginn um einen Meter angehoben worden.
Gustav bat Josefa, seinen alten Frack aufzubügeln, obwohl er vorhatte, mit Stehparterre vorlieb zu nehmen. Irgendwie musste er die zwanzig Kronen, die er heute so leichtfertig verloren hatte, ja wieder hereinkriegen. Er nahm zehn Kronen aus der Haushaltskasse und ging zu Fuß zur Oper.
Die Stehplätze in der Wiener Oper kosteten zwei Kronen. Sie befanden sich genau unterhalb der kaiserlichen Loge, die im Dunkeln lag und offensichtlich leer bleiben würde.
Das Stehparterre wurde durch eine Bronzestange in zwei Hälften geteilt. Die eine Seite war für Zivilisten, die andere für Militärpersonen reserviert. Hier blieben die Männer unter sich. Den Damen war stundenlanges Stehen nicht zuzumuten.
Gustav musterte die komischen Zeitgenossen, die sich in den nächsten Stunden mit ihm die paar Quadratmeter teilen würden. Seine empfindliche Nase nahm unangenehme Körpergerüche wahr. Am liebsten hätte er sich unter seine ehemaligen Kameraden auf der anderen Seite gemischt. Drüben war eindeutig mehr Platz.
Als die Musiker im Orchestergraben ihre Instrumente zu stimmen begannen, warf er einen Blick hinauf auf die billigeren Ränge. Zwischen all den Köpfen, die über den Balustraden der Balkone hingen, glaubte er ein bekanntes Gesicht auszumachen.
Die Lichter erloschen, der Vorhang hob sich und enthüllte die Aura des heiligen Grals.
Leise hohe Streicherklänge, die bald anschwollen und wieder in sphärischem Pianissimo verschwanden. Das Vorspiel gefiel ihm nicht schlecht. Tante Vera hätte schon den Beginn dieser Wagner-Oper als zu schwülstig und bombastisch kritisiert, dachte er.
Als im ersten Aufzug Heinrich der Vogler
„Ob Ost, ob West, das gelte allen gleich.
Was deutsches Land ist, stelle Kampfesscharen.
Dann schmäht wohl niemand mehr das deutsche Reich.“
schmetterte, und heftiger Zwischenapplaus erklang, sah Gustav sich gereizt um.
Bildete er sich nur ein, dass einige seiner früheren Kameraden äußerst zufrieden dreinschauten? Trotz der beinahe narkotischen Wirkung, die Wagners Musik auf ihn ausübte, hätte er das Opernhaus am liebsten gleich wieder verlassen. Doch wenn ihn seine Augen vorhin nicht betrogen hatten, saß seine ehemalige Geliebte Theresa oben im letzten Rang.
Als der wunderbare Tenor Alberto Krause, der die Partie des Lohengrin sang, mit seiner Arie begann, entschied er, wenigstens bis zur Pause zu bleiben.
„Nie sollst du mich befragen,
noch Wissens Sorge tragen,
woher ich kam der Fahrt,
noch wie mein Nam’ und Art“
war kaum verklungen, als seine Gedanken zu Theresa abschweiften.
Sie war Varietétänzerin mit einer Vorliebe für das dramatische Fach. Leider hatte sie es, trotz ihres hübschen Gfrießels und ihrer strammen Beinchen, nie bis auf die Bühne der Oper geschafft. Sie sah goldig aus, war aber leider ein bisschen beschränkt. Ihr ständiges Geplapper war ihm bereits bei ihrem zweiten Rendezvous dermaßen auf die Nerven gegangen, dass er die Affäre kurze Zeit später beendet hatte, obwohl sie im Bett eine kleine Teufelin war.
In der Pause machte er sich sofort auf die Suche nach ihr. Als er sie vor dem Rauchersalon entdeckte, stürzte er zu ihr, ergriff ihre zarte Hand und küsste sie auf die Wange.
Sie tat verschnupft.
Er lud sie auf ein Gläschen Champagner ein und entschuldigte sich wortreich für seinen damaligen abrupten Abgang. Nachdem er ihr einige sehr schmeichelhafte Komplimente über ihr jugendliches Aussehen gemacht und ihr tief ausgeschnittenes karmesinrotes Kleid gebührlich bewundert hatte, bereitete es ihm keine große Mühe, sie zu überreden, das bittere Ende der Oper nicht mehr abzuwarten.
„Oder willst du unbedingt miterleben, wie dieser Held einfach verschwindet und Ortrud und Elsa sterben lässt? Ich finde diese Geschichte ist viel zu traurig für dein sonniges Gemüt.“
Sie fuhren mit der ersten elektrischen Tramway hinaus nach Dornbach zu
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