Der Tod fährt Riesenrad - Kneifl, E: Tod fährt Riesenrad
Zwölfjährige. Und sie hatte seine hellen wasserblauen Augen, seine schmale lange Nase und seine schmalen Lippen geerbt. Von ihrer Mutter hatte sie nur ihre üppige Haarpracht.
Das Mädchen wirkte erschöpft, war bleich im Gesicht und konnte sich kaum bewegen, dennoch plapperte sie ununterbrochen.
Gustavs schwarzer Anzug war voller Staub und Spinnweben. Verärgert klopfte er seine Kleider ab. Dann holte er ein Glas Wasser vom Eisvogel und reichte es dem Mädchen.
„Du musst jetzt viel trinken.“
Sie schlug ihm den Becher fast aus der Hand.
„Ich muss an die Arbeit“, sagte Sylvia.
Gustav wollte sie nicht gehen lassen, es fiel ihm jedoch auf die Schnelle kein Grund ein, sie länger aufzuhalten. Überschwänglich bedankte er sich für ihre Hilfe und küsste ihr zum Abschied die Hand, so als wäre sie eine Dame der Gesellschaft.
Er sah ihr lange nach. Erst als sie in den Menschenmassen, die vor der neuen Rutschbahn Schlange standen, untertauchte, kümmerte er sich wieder um Leonie.
„Ich bring dich nach Hause“, sagte er und nahm ihren Arm.
„Neiin!“, kreischte sie und schlug um sich.
Er hatte alle Mühe, sie zu bändigen.
Während er sich, die Kleine hinter sich her zerrend, auf die Suche nach einer freien Kutsche machte, versuchte er, die Gedanken an die verführerische Sylvia zu verbannen, und überlegte, ob es wirklich schlau war, Leonie sofort zu ihrer Mutter und ihrem Großvater zurückzubringen.
Als er endlich eine Droschke aufgetrieben hatte, war er wild entschlossen, diesen Fall heute aufzuklären, und zwar mit Hilfe der Kleinen. Seine Sympathie für sie hielt sich in Grenzen.
„Ich schlage vor, wir benachrichtigen zuerst einmal deine Mutter. Sie hat sich große Sorgen um dich gemacht.“
Er hob das Mädchen in die Droschke. Sie schlug ihm ins Gesicht und kreischte: „Neiin!“
Gustav kam sich beinahe selbst wie ein Entführer vor.
„Wie du meinst, dann muss ich dich leider zur Polizei bringen.“
„Ich will nicht zur Polizei.“ Leonie fing zu heulen an. „Wer sind Sie überhaupt?“
„Ich bin Privatdetektiv und möchte meine Lizenz nicht verlieren. Wenn du einverstanden bist, werden wir zuerst zu meiner Tante fahren. Dort bist du in Sicherheit. Trotzdem muss ich deine Angehörigen verständigen.“
„Ich gehe nicht zurück zu Großpapa!“ Leonie schaute Gustav trotzig an.
„Keine Angst. Meine Tante ist eine sehr nette Dame und wird sich um dich kümmern, bis deine Mutter kommt.“
„Ich mag auch nicht zu meiner Mama.“
Gustav war nahe daran, die Nerven zu verlieren.
„Zu den Hofstallungen“, befahl er dem Kutscher.
Während der Fahrt redete Leonie wie aufgezogen, redete von Pferden, von Luzifer und von Gespenstern …
Sie ist nicht ganz normal, dachte Gustav.
„Ich weiß, dass du dich ein paar Tage bei Angelina versteckt hast“, unterbrach er ihr sinnloses Geplapper.
Sie sah ihn mit ihren großen Augen unschuldig an.
„Bitte erzähl mir der Reihe nach, was passiert ist.“
„Sie werden mir nicht glauben.“
„Ich glaube dir, würde die Geschichte nur gern von Anfang an hören. Wer hat dich entführt?“
Sie verfiel in beunruhigendes Schweigen.
„Napoleon“, sagte sie nach einer Weile zögernd. „Er hat mich zu den Zirkusleuten gebracht. Sie haben mich in Angelinas Wagen festgehalten. Als Napoleon mich eines Tages nicht mehr besucht hat …, ich meine, mir nichts mehr zu essen gebracht hat, habe ich versucht davonzulaufen.“
Sie lügt, dachte Gustav.
„Leider bin ich Max Polanski in die Hände gefallen. Und dieser Verbrecher hat mich in ein feuchtes Rattenloch verschleppt. Ich bin dort fast gestorben vor Angst. Irgendwann hat er mich weggebracht und in dem Gewölbe unter der Grottenbahn eingesperrt.“
Gustav fragte sich, was an dieser Geschichte wahr und was reine Phantasie war. Er hoffte auf die Hilfe seiner Tante. Bestimmt konnte sie mit dieser Halbwüchsigen besser umgehen als er.
20
Kaum waren sie in den Reitstallungen angelangt, kritzelte er im flackernden Licht einer Gaslaterne ein paar Worte auf seinen Notizblock, reichte dem Kutscher den Zettel, gab ihm eine ordentliche Maut und sagte: „Fahren Sie zum Palais Schwabenau und fragen Sie nach Margarete von Leiden. Geben Sie ihr diese Nachricht höchstpersönlich und ja keinem anderen.“
Als er mit Leonie seine Wohnung betrat, blieb er vor Schreck in der Tür stehen. Seine Tante hatte Besuch. Männerbesuch! Die sonore Stimme kam ihm bekannt vor.
„Papa!“, schrie Leonie und
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