Der Tod ist kein Gourmet
Gloria nicht im geringsten beeindruckt. Sie war eisern geblieben.
»Hannah! Du hast es mir versprochen! Die Mädels sind alle hier. Wir trinken gerade Tee.«
Das Telefon klingelte. Lindsey nahm den Anruf entgegen.
An Lindseys Antworten konnte Honey ablesen, dass ihre Mutter am anderen Ende der Leitung war.
»Warum habe ich nicht angeboten, ihnen ein Taxi zu bezahlen«, stöhnte sie leise.
Lindsey legte auf. »Sie sagt, ich soll dich noch mal dran erinnern.«
Honey seufzte.
Lindsey wandte sich wieder ihrem Computer-Bildschirm zu. »Schnee von gestern«, meinte sie altklug über die Schulter.
»Na ja, da könntest du recht haben«, erwiderte Honey düster. »Es regnet Bindfäden.«
Lindseys Aufmerksamkeit war auf den Monitor gerichtet. Sie schien weitaus mehr Interesse für die E-Mails aufzubringen als für die Beschwerden und das Wehklagen ihrer Mutter über die Teilnahme an einer Beerdigung. Ihre Augen leuchteten. »Mensch, schau dir das nur alles an!«
Honey schaute zu, wie ihre Tochter mit raschem Finger blitzschnell eine E-Mail nach der anderen löschte.
Plötzlich überkam Honey eine völlig unerwartete Welle der Nostalgie. Sie erinnerte sich daran, wie sie diesen Finger zum ersten Mal gehalten hatte, wie verwundert sie darüber gewesen war, dass er so winzig und doch so vollkommen war. Sie hätte damals diese Freude gern mit jemandem geteilt, aber es war niemand zur Hand, ganz gewiss nicht der Mann, der seinen Teil zur Existenz ihrer Tochter beigetragen hatte.
An dem Tag, als Lindsey geboren wurde, befand sich ihr Vater auf einem Segeltörn und hatte Honey allein zurückgelassen. Das hatte sie Carl nie ganz vergeben. Er hätte da sein müssen, wenn schon nicht für sie, dann wenigstens für seine Tochter.
Lindsey war so in die Arbeit vertieft, dass sie den Gesichtsausdruck ihrer Mutter nicht wahrnahm. Sie war nur auf das Löschen konzentriert.
»Guck dir diesen Mist an. Soll ich dir mal eine der Mails vorlesen?«, fragte sie mit höchst zufriedener Stimme.
»Aber nur eine«, antwortete Honey, die noch immer vom warmen Gefühl der Erinnerung durchströmt war.
Lindsey wählte einen der Briefe aus. »Der ist genau richtig.« Sie las eine Mail vor, die angeblich vom Bruder eines bei einem Mordanschlag ums Leben gekommenen afrikanischen Politikers stammte, der viel Geld auf der Bank hatte. Einen großzügigen Anteil dieser Summe sollte der Leser des Schreibens bekommen, wenn er sein eigenes Konto als Zwischenkonto zur Verfügung stellte, um irgendwelche juristischen Streitereien zu umgehen.
»Dann kennen sie die Angaben zu deinem Bankkonto und räumen es ab«, sagte Lindsey.
»In meinem Fall bekämen sie meine Schulden und einenDrohbrief von der Bank, dass sie das überzogene Konto sperren werden«, meinte Honey trocken.
»Du bist ja nicht das ideale Opfer, Mutter. Die versuchen, sich an Leute ranzumachen, die tatsächlich Geld auf der Bank haben. Manchmal irren sie sich, wie in deinem Fall. Alles ist gut, solange die Bank für die Verluste aufkommt.«
Der Gedanke, ihrer Bank einen Streich zu spielen – genauer gesagt, ihrem Filialleiter –, schien Honey ziemlich verlockend. Sie schaute genauer auf den Bildschirm, falls einer von den Schwindlern auf ihrem Konto tatsächlich Geld entdeckt hatte, von dem sie nichts wusste.
»Und worum geht es in dem Brief da?«, fragte sie und deutete auf eine Mail, die Lindsey gerade löschen wollte. Als Bezug war angegeben: Sparen Sie für Ihr Grab. Ihre Grabstelle Nummer 172341. Das Angebot war, dass man online für eine Grabstelle auf dem Friedhof seiner Wahl zahlte. Man musste nur eine Kaution von 300 Pfund hinterlegen. »Ihr Letzter Wunsch geht in Erfüllung, und Sie können sich und Ihre Familie beruhigen.«
»Hm!«, rief Lindsey. Sie richtete sich kerzengerade auf ihrem Stuhl auf und schaute mit offensichtlicher Skepsis auf den Monitor. »Du zahlst deine 300 Pfund und siehst sie nie wieder. Die Grabstelle gibt’s gar nicht. Das Unternehmen auch nicht. Supergeschäft, was?«
»Na ja, für den, der das Geld kriegt, schon«, antwortete Honey. »So was nennt man gewöhnlich eine Goldgrube.«
Honey fand Computer im Prinzip in Ordnung, wollte sich aber nicht zu intensiv mit ihnen beschäftigen. Sie verließ sich darauf, dass ihre Tochter schon alles durchsehen würde, was auf dem Computer so eintraf, und nur die Botschaften löschte, die wirklich Mist waren.
Ihre Gedanken wanderten wieder zu der verdammtenBeerdigung, zu der sie nun musste. Wie zum Teufel
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