Der Tod ist kein Gourmet
die Balustraden.
Wie von einem sicheren Instinkt geleitet, tauchte der Kopf von Honeys Mutter über dem Balkongeländer auf. »Ah, da bist du ja endlich! Du lässt es wirklich auf die letzte Minute ankommen.« Tadel schwang in ihrer Stimme mit.
»Der Verkehr ist nur sehr langsam vorangekommen, wegen des Regens«, rief Honey zurück. Irgendwie klang die Entschuldigung lahm, aber diesmal war es die reine Wahrheit.
»Dora fährt mit uns im Aufzug runter, aber sie braucht ein bisschen Hilfe beim Einsteigen.«
Typisch. Die gute Entschuldigung wurde schlicht ignoriert. Es lohnte sich einfach nicht, die Wahrheit zu sagen.
»In Ordnung.«
Gloria Cross war schon wieder in der Wohnung verschwunden. Garantiert teilte sie jetzt allen mit, dass ihre Tochter wieder einmal zu spät dran war, wie man es eigentlich nicht anders hätte erwarten können. Für ihre Mutter konnte sie nie pünktlich genug sein. Sie konnte auch nie so vollkommen sein, wie ihre Mutter es sich gewünscht hätte.
Honey schaute mit grimmiger Miene zum Himmel. Der Regen hatte aufgehört, aber wohl nicht für lange. Sie musste es auf jeden Fall vermeiden, noch einmal pitschnass zu werden, und die einzige Methode, dies zu verhindern, war – außer dem Kauf eines großen, neuen Schirms – ein Appell an die Himmelsmächte.
»Lieber Gott, würdest du bitte den nächsten Schauer aufhalten, bis ich Dora ins Auto bugsiert habe! Das könnte eine Weile dauern, und ich möchte nicht, dass die Hutkrempe noch schlapper wird, als sie es ohnehin schon ist.«
Dora war ziemlich mollig, ging mit Krücken und besaß eine Norfolk-Terrier-Hündin namens Bobo, die nicht ganz stubenrein war. Wenn Bobo musste, dann musste sie eben. Und pinkelte.
Die Aufzugtüren gingen auf und gaben den Blick auf vier Damen ganz in Schwarz frei. Selbst die furchterregende Bobo hatte eine schwarze Schleife am Halsband.
Als sie Honey erblickte, wedelte die kleine Hündin wie wild mit dem Schwanz. Leider hatte diese herzliche Begrüßung Folgen. Kleine Tröpfchen Urin spritzten mit jedem Schwanzwackeln auf die eleganten Marmorfliesen des Foyers.
»Bobo freut sich so, dich zu sehen«, flötete Dora, die anscheinend die schlechten Manieren ihrer Hündin übersah.
Honey hatte das Gefühl, sie müsste zumindest so tun, als freute sie sich genauso, auch wenn das wirklich nicht stimmte. Sie tätschelte die kleine Hündin kurz und murmelte ein paar freundliche Worte. »Bobo, feiner Hund, schön, dich zu sehen.«
Sobald Dora sie nicht mehr hören konnte, änderte sie aber ihren Ton: »Untersteh dich und pinkle in mein Auto, dann kannst du hinter dem Wagen herrennen – an einer sehr langen Leine!«
Kaum waren die vier Damen nach draußen getreten, da wurden auch schon die Schirme aufgeklappt. Der Regen hatte mit unverminderter Kraft wieder eingesetzt. Ihre Füße platschten über den nassen Gehsteig, als sie zum Auto eilten.
An Honey blieb die Aufgabe hängen, Dora und ihre Hündin auf den Beifahrersitz zu hieven. Die anderen drei waren schmaler und quetschten sich auf den Rücksitz. Ihre Schirme staken aus den hinteren Türen und wurden vehement geschüttelt, dass die Tropfen nur so in alle Himmelsrichtungen stoben.
Die üppige Dora stieg mühsam vorne ein und nahm die sehr leicht erregbare Bobo auf den Schoß.
Die Franzosen sind nicht gerade berühmt dafür, dass sie geräumige Limousinen konstruieren. In Honeys Citroën war genug Platz für fünf normalgroße Personen. Aber Dora war eben nicht normalgroß. Bobo saß auf ihrem weitläufigen Schoß und musste die Pfoten auf das Armaturenbrett legen.
Honey, die spürte, wie der Regen ihr auf den Rücken prasselte, nahm Doras Krücken und legte sie samt ihrem lecken Schirm in den Kofferraum, da vorne wirklich kein Platz mehr war.
Ihr schwarzer Trilby mit dem eleganten Hutband warnun wirklich völlig hinüber. Der Rock ihres schwarzen Kostüms war patschnass. Zum Glück hatte sie sich für Stiefel entschieden. Das war für Mitte Juni vielleicht ein wenig übertrieben, aber seit einem Segeltörn mit Carl von den Scilly-Inseln zur Insel Wright traute sie den Wettergöttern nicht mehr. Ihr Ehemann Carl hatte ihr damals versichert, es würde alles gut werden, weil alle Wettervorhersagen auf sämtlichen elektronischen Geräten das meldeten. Das hatte leider nicht gestimmt. Genauso wenig wie auf seinem letzten Törn. Da hatte er auch bei einem Sturm über dem Nordatlantik mit übertriebenem Selbstbewusstsein seinen Instrumenten vertraut. Pech für
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