Der Tod ist mein Nachbar
genüßlichen Lektüre ehebrecherischer Beziehungen hingeben. Alle waren vor Schrecken wie gelähmt, und später, als der Schock nachgelassen hatte, wuchs die Angst.
Um halb drei berichtete man Morse, daß unter den Nachbarn kaum vielversprechende Zeugen waren – abgesehen von der alten Dame in Nummer 19. Vielleicht wollte Morse sich die selbst vornehmen?
»Soll ich mitkommen, Sir?«
»Nein, Lewis. Sie versuchen am besten etwas über Storrs und seine Frau herauszufinden. Bath, sagen Sie? Wahrscheinlich hat er eine Adresse oder eine Telefonnummer in der Pförtnerloge des College hinterlegt, das ist so üblich. Und telefonieren Sie vom Präsidium aus, ich möchte die Leitung hier freihalten.«
Die verwitwete Mrs. Adams war eine zierliche alte Dame um die achtzig, die keinen einzigen eigenen Zahn, nur noch wenige weiße Haare und ein ziemlich eingeschränktes Hörvermögen besaß. Geistig aber war sie, wie Morse sogleich begriff, noch voll da, und ihre kurze Aussage interessierte ihn sehr. Sie hatte in der vergangenen Nacht schlecht geschlafen, war früh aufgestanden, hatte sich Tee und Toast gemacht, die Sieben-Uhr-Nachrichten im Radio gehört, den Tisch abgeräumt und war dann vor die Hintertür getreten, um ihren Mülleimer zu leeren. Und da hatte sie ihn gesehen.
»Ihn?«
»Wie bitte?«
»Sind Sie sicher, daß es ein Mann war?«
»Aber ja. So etwa zwanzig oder fünfundzwanzig Minuten nach sieben.«
In den Fall kam Bewegung.
»Sie haben keinen Schuß oder so was wie einen Knall gehört?«
»Wie bitte?«
Morse fragte nicht weiter.
Er bedankte sich bei der alten Dame und erklärte, daß sie ein kurzes Protokoll würde unterschreiben müssen. Ehe er ging, gab er ihr noch seine Karte.
»Wenn Ihnen noch etwas einfällt, Mrs. Adams, setzen Sie sich bitte mit mir in Verbindung.«
Er konnte nur hoffen, daß sie ihn verstanden hatte. Als er die Küche verließ, stand sie da, hielt die Karte acht bis zehn Zentimeter vom Gesicht weg und kniff die blassen, wäßrigen Augen zusammen, um den Text zu entziffern.
Mit einer Gegenüberstellung war sie überfordert, das war Morse völlig klar. Vielleicht hätte sie noch gesehen, daß es sich bei allen Vorgeführten um Männer handelte, aber körperliche Unterschiede würden diese müden alten Augen nie erkennen können.
Arme Mrs. Adams!
Keine Zähne, keine Haare, keine Ohren, keine Augen – und sehr bald überhaupt nichts mehr!
Selten hatte Morse bei der Beurteilung einer wichtigen Zeugin so sehr danebengegriffen wie bei Mrs. Arabella Adams.
42
Alibi (adv.): an anderer Stelle, anderswo
(Sma ll’ s Latin-English Dictionary)
Es gibt Menschen, die jede Art von Verantwortung scheuen und sich nur dann ganz wohl fühlen, wenn man ihnen genau sagt, was sie wie und wann zu tun haben. Zu diesen Menschen gehörte Sergeant Lewis nicht. Er war durchaus bereit, seinen Teil an Verantwortung und nicht selten auch an Schuld auf sich zu nehmen. Allerdings war es ihm am liebsten, wenn er wie jetzt eine fest umrissene Aufgabe hatte, und als er nachmittags ins Präsidium fuhr, tat er das mit dem angenehmen Gefühl einer erfolgreich erledigten Mission.
Nur eins gab ihm zu denken. Fast eine Woche hatte Morse jetzt notgedrungen auf Bier und Zigaretten verzichtet – um dann nach wenigen Stunden wieder schwach zu werden. Aber solche Entscheidungen muß jeder für sich treffen, und Morse war offenbar zu dem Schluß gekommen, daß der langfristige Verfall von Leber und Lunge ein Preis war, den er – sogar noch mit Diabetes! – um des kurzfristigen Genusses willen von Alkohol und Nikotin zu zahlen bereit war.
Noch aber war Morse offenbar durchaus auf der Höhe. Storrs hatte seine Wochenendadresse tatsächlich in der Pförtnerloge hinterlegt, und wenig später sprach Lewis mit dem Geschäftsführer des Royal Crescent Hotel in Bath, der sich zunächst korrekterweise sehr zurückhielt, dann aber, als Lewis ihn über Bedeutung und Dringlichkeit seiner Ermittlungen aufgeklärt hatte, äußerst hilfsbereit war. Er versprach, in einer halben Stunde zurückzurufen.
Lewis griff sich den Daily Mirror vom Vortag und brütete eine Weile über 1 waagerecht »Fluß« (3). CAM, DEE, EXE, FAL ? Unverdrossen ging er weiter das Alphabet durch, um sich dann für fal zu entscheiden, weil das gut zu FELCHE , der Antwort auf 1 senkrecht »Fisch« (6), paßte. Zufrieden stellte er fest, daß damit der Anfang gemacht war, aber viel weiter kam er nicht, da ihm – abgesehen davon, daß der
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