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Der Tod ist mein Nachbar

Der Tod ist mein Nachbar

Titel: Der Tod ist mein Nachbar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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die vor dem Haus Nummer 15 auf der Lauer lagen. Deshalb setzte er sich erneut in die jetzt leere Küche und dachte nach.
    Von klein auf war es ihm um Antworten, um Lösungen gegangen. Im Kindergottesdienst hatte er mal nach der topographischen Lage des Himmels gefragt, woraufhin eine phantasielose alte Jungfer ihn mit der Bemerkung abgefertigt hatte, er solle nicht so dumm daherreden. Auch im Gymnasium hatte er sich einen Verweis seines Religionslehrers eingehandelt, als er hatte wissen wollen, wer, wenn Gott der Schöpfer des Universums war, dann wohl Gott geschaffen hatte. Und als er von seinem Physiklehrer keine zufriedenstellende Antwort auf die Frage erhalten hatte, was einen wohl dort, wo das Weltall zu Ende war, erwarten mochte, hatte er ein bißchen zurückstecken und seine intellektuelle Gier nach Antworten dadurch befriedigen müssen, daß er die Werte für x und y in immer komplizierteren Gleichungen ermittelt und den immer komplizierteren Sinn langer Chöre in griechischen Tragödien enträtselt hatte.
    Als Mittzwanziger hatte er angefangen, seinen Wissensdurst mit Kreuzworträtseln zu stillen, und die Ungeduld, mit der er am nächsten Tag die Lösung eines Wortes erwartete, das er nicht herausgebracht hatte, nahm zuweilen fast manische Züge an. Als er an diesem bedeckten, kühlen Samstagnachmittag Anfang März im Bloxham Drive saß, war ihm bewußt, daß es auch für das Rätsel, das ihn zur Zeit beschäftigte, eine Lösung geben mußte. Die Abfolge der Ereignisse, die sich heute früh gegen halb acht hier zugetragen hatten, ließ sich relativ leicht rekonstruieren. Jemand hatte an die Tür geklopft, war eingelassen worden, hatte zweimal auf Owens geschossen, war nach oben gegangen, um etwas zu suchen, hatte durch die Hintertür das Haus verlassen und sich zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem Auto entfernt.
    Wer?
    Wer, Morse? Denn es war jemand mit einem menschlichen Antlitz und einem menschlichen Motiv. Wenn es ihm gelänge, alle Hinweise zusammenzufügen, hätte er die Lösung. Hin und wieder wurde das Bild, das er vor sich sah, schärfer, eine logische Folge kausaler Zusammenhänge kristallisierte sich heraus – dann aber verschwammen die Konturen wieder, das fast schon Greifbare wich zurück. Eine Eingebung blieb ihm an diesem Nachmittag versagt.
    Daß er nicht weiterkam, machte Morse zunehmend nervös. Er kam sich vor wie ein hochgelobter Schriftsteller, dessen Werke mit schöner Regelmäßigkeit auf den Bestsellerlisten erscheinen und den plötzlich quälende Zweifel befallen, ob er noch einmal einen solchen Erfolg zustande bringen kann, den die Angst plagt, seine Schaffenskraft sei versiegt und er müsse sich auf die Möglichkeit einer Niederlage einstellen.
    Lewis kam noch einmal in die Küche zurück.
    Dr. Cornford würde sich freuen, mit Morse zu sprechen, und richte sich mit dem Termin ganz nach ihm. Heute nachmittag um fünf, vor der Andacht? In seinen Räumen im Lonsdale College?
    Morse nickte.
    »Ich habe noch mal bei den Storrs angerufen, Sir. Sie sind wieder in Oxford. Offenbar haben sie in Burford eine Mittagspause gemacht. Soll ich bei ihnen vorbeigehen?«
    Morse sah einigermaßen erstaunt hoch.
    »Wie kommen Sie denn darauf, Lewis?«
     

44
     
    Die Glocken nach ihr riefen
    Ins fernste Tal hinein:
    »Zur Kirche kommt, ihr Leute,
    Zum Beten kommt und zum Verzeih’n!«
    Dem Rufe mocht nicht folgen die Liebste mein.
    (A. E. Housman, A Shropshire Lad XXI)
     
    Nach einer kurzen Rückfrage an der Pforte wandte sich Morse nach links und ging über den Hof zum Old Staircase. Im ersten Stock stand über der Tür in weißen Frakturlettern auf schwarzem Grund: Dr. D. J. Cornford .
    »Es ist wohl noch ein bißchen früh, Ihnen einen Drink anzubieten, Chief Inspector …«
    Morse sah auf seine Armbanduhr.
    »Meinen Sie?«
    »Scotch? Gin? Wodka?«
    »Scotch bitte.«
    Cornford goß den Glenmorangie in ein Whiskyglas.
    »Sagen Sie ›halt‹.«
    Der Chief Inspector schien mit der Aussprache dieses Wortes gewisse Schwierigkeiten zu haben, und als das Glas zur Hälfte mit der blaßgoldenen Flüssigkeit gefüllt war, hörte Cornford auf.
    »Halt«, sagte Morse.
    »Eis habe ich hier leider nicht, aber Sie wollen ja Ihren Drink sicher sowieso nicht verdünnen.«
    »Leider doch. Wenn ich um dieselbe Menge Wasser bitten dürfte … Was tut man nicht seiner Leber zuliebe!«
    Von dem eichengetäfelten Raum mit der hohen Decke und den vielen Büchern an der Wand gingen zwei Türen ab. Cornford öffnete

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