Der Tod ist mein Nachbar
weil ich joggen war. Kurz vor sieben.«
»Nur Sie?«
Cornford nickte unbestimmt.
»Danach sind Sie nicht mehr weggegangen? Oder weggefahren? Vielleicht um eine Zeitung zu holen?«
»Ich selbst besitze keinen Wagen. Meine Frau hat zwar einen, aber er steht in einer Garage in der New Road.«
»Ziemlich weit weg.«
»Ja«, wiederholte Cornford gedankenvoll. »Ziemlich weit weg.«
Nachdenklich ging Morse die Treppe hinunter. Cornford war nach seiner Einschätzung ein kultivierter, höflicher, gescheiter Mann von unauffälliger, aber unverkennbarer Tatkraft, der vermutlich alle Voraussetzungen für das Amt des Master von Lonsdale mitbrachte. Nur zweierlei gab Morse ein wenig zu denken. Wenn Cornford schon Housman zitierte, sollte er es wenigstens richtig tun.
Und bei dem zweiten Punkt – ja, da lag er womöglich völlig falsch …
Wenige Sekunden nachdem Morse am Fuß der knarrenden Holztreppe angekommen war, ging die Schlafzimmertür auf.
»Worum ging’s denn?«
»Hast du das nicht mitbekommen?«
»Das meiste schon«, gab sie zu.
Sie trug ein züchtig ausgeschnittenes schwarzes Kleid in züchtiger Länge – die angemessene Garderobe für den Kirchgang an der Seite ihres Mannes.
»Er hat weißere Haare als du, Denis. Ich hab ihn beim Hinausgehen gesehen.«
Die Glocke läutete noch immer.
Noch fünf Minuten.
Cornford zog seinen Talar an und warf mit einer geübten Bewegung die Kapuze über die Schulter. Dann wiederholte er – wieder falsch – die Housman-Zeile, während er seine Frau in die Arme nahm und ihr unverwandt in die Augen sah.
»Mußt du um etwas beten? Um etwas, was dich bedrückt?«
Shelly Cornford lächelte in einem verzweifelten Versuch, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr das schlechte Gewissen sie quälte.
»Ich werde für dich beten, Denis. Daß du Master von Lonsdale wirst. Das wünsche ich mir mehr als alles auf der Welt. Für dich, mein Liebling. Nicht für mich.«
»Und sonst?«
Sie trat zurück und strich das Kleid über den sportlichen Hüften glatt.
»Zum Beispiel?«
»Manche Leute beten zum Beispiel um Vergebung«, sagte Denis Cornford leise.
Morse stand – unbeobachtet, wie er glaubte – im Schatten der Pförtnerloge und las die neuesten Nachrichten über die verschiedenen Sportmannschaften des College, als er die beiden sah. Cornford im Talar und eine Frau in Schwarz kamen aus dem Eingang des Old Staircase und gingen in Richtung Kapelle.
Das Läuten der Glocke war verstummt.
Morse trat auf den Radcliffe Square hinaus, den er überqueren mußte, um in das Kings Arms auf der Broad Street zu gelangen. Dort bestellte er ein Pint Bitter. Vielerlei bewegte ihn, während er im hinteren Gastraum saß. Unter anderem ein ganz ungewohntes Gefühl der Dankbarkeit gegenüber der Tory-Regierung, die eine Änderung der Schankzeiten am Sonntag durchgesetzt hatte.
45
Ich sah mich als Professor,
Der in der Bibliothek die alten Dichter liest,
Der im Talar zur Andacht zieht
Und schweren Portwein trinkt bei Kerzenlicht.
(John Betjeman, Summoned by Be l ls )
Im Frühjahrstrimester war es im Lonsdale College üblich, am Sonntagabend in der Großen Halle auf elektrisches Licht zu verzichten und den Raum nur mit den Kerzen in den Wandhalterungen zu beleuchten. Bei den Studenten, von denen die meisten Kerzenlichtromantik nur von vorübergehenden Stromausfällen her kannten, waren diese Abende sehr beliebt, und besonders von der erhöhten Tafel aus bot sich ein schönes Bild auf die flackernden Kerzen, die sich in dem blankgeputzten Silber der Salznäpfchen und Terrinen spiegelten, und auf das glitzernde Besteck, das geometrisch genau vor jedem Platz aufgelegt war.
An diesen Abenden gab es keine strenge Sitzordnung, allerdings saß der Gastprediger (diesmal ein schwarzer Bischof aus Afrika) immer rechts, der Collegekaplan links vom Master. Ansonsten versammelten sich an der erhöhten Tafel (an der am Sonntagabend gewöhnlich kein Platz frei blieb) regelmäßig die Fellows, die vorher in der Kirche gewesen waren, oft mit ihren Ehefrauen oder mit einem Gast, und seit ein paar Jahren kam auf Einladung eines der Professoren immer auch ein Student dazu.
Diesmal war das Antony Plummer, der neue Organist, der die von Julian Storrs ausgesprochene Einladung der Tatsache verdankte, daß sie beide auf dieselbe Schule, die Services School in Dartmouth, gegangen waren. Dieses Internat war besonders bei Mitgliedern der Streitkräfte beliebt, die ihre Söhne dort
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