Der Tod ist mein Nachbar
Büro von Morse betreten, als Jane die Post brachte: sechs dienstlich aussehende, geöffnete Umschläge, an die jeweils der entsprechende Vorgang geklammert war. Einen quadratischen weißen ungeöffneten Umschlag mit dem Vermerk »Privat« und dem Poststempel »Oxford«, einen Luftpostumschlag, ebenfalls ungeöffnet, mit dem Vermerk »Persönlich« und dem Poststempel »Washington DC«.
Jane strahlte ihren Chef an.
»Warum haben Sie denn so gute Laune?« erkundigte sich Morse.
»Ich freue mich eben, daß Sie wieder da sind.«
Der weiße Umschlag enthielt eine Klappkarte. Vorn war eine Frau mit rotbraunem Haar und weißem Kleid zu sehen, die in einem Buch las, auf der Innenseite stand:
Geoffrey Harris-Station
Radcliffe Infirmary
7. März 1996
Ohne Ihr unglückliches Gesicht fehlt uns was auf der Station. Wenn Sie das Rauchen nicht aufgegeben haben, wird nichts aus dem Gin Tonic, den Sie mir versprochen haben. Passen Sie also gut auf sich auf!
Liebe Grüße
Janet (McQueen)
P.S. Ich habe Ihre Krankenakte durchgesehen (über viele Jahre!), und raten Sie mal, was ich gefunden habe: Ihren Vornamen!
»Warum haben Sie denn so gute Laune?« erkundigte sich Lewis.
Morse antwortete nicht, las aber die wenigen Zeilen noch ein paarmal, ehe er den Brief aus den Vereinigten Staaten öffnete.
Washington
4. März
Lieber Morse,
ich habe gerade Ihre Sache in der Police Gazette gelesen. Woher ich weiß, daß das Quiz von Ihnen ist? Immerhin war ich ja auch mal Detective! Ich persönlich hätte mich für den Champagner entschieden. Und meiner Meinung nach ist das Requiem von Fauré im Vergleich zu dem von Verdi doch ein Leichtgewicht, auch wenn es den päpstlichen Segen hat. Ich weiß, daß Sie bei Wagner weinen, aber ich werde eben bei Verdi weich, und mein schönstes Weihnachtsgeschenk war die Karajan-Aufnahme des Don Carlos.
Ich kenne Ihre Angst vorm Fliegen, aber ein Besuch in dieser Stadt – besonders im Frühling, wie es heißt – ist etwas, das man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte. Wenn ich wieder da bin (April), setzen wir uns auf ein Glas zusammen.
Und warten Sie nicht zu lange, bis Sie in den Ruhestand gehen.
Wie stets,
Peter (Imbert)
Morse reichte Lewis den Brief.
»Der frühere Chef der Metropolitan Police.«
Morse nickte mit einigem Stolz.
»Das ist dann wohl Washington DC.«
»Was sonst?«
»Washington CD – County Durham. Nicht weit weg.«
»Ach so.«
»Was haben Sie heute auf dem Programm, Sir?«
»Tja, mit der Kleinarbeit sind wir wohl praktisch durch …«
»Bis auf die Harvey Clinic.«
»Und da fahren Sie ja demnächst hin, wie Sie sagten …«
»Ja, heute früh. Die Frau, die ich sprechen will, ist gerade von einem kurzen Urlaub zurückgekommen.«
»Um wen handelt es sich doch gleich? Helfen Sie mir mal auf die Sprünge.«
»Ich hab Ihnen schon von ihr erzählt: Dawn Charles.«
»Mrs., Miss oder Ms.?«
»Das weiß ich nicht. Sie macht den ganzen Bürokram. Wenn irgend jemand weiß, was dort läuft, dann sie, heißt es.«
»Wann sind Sie mit ihr verabredet?«
»Um zehn. Sie hat eine kleine Wohnung in Bicester, in der Charles Church-Siedlung. Kommen Sie mit?«
»Wohl kaum. Ich habe das Gefühl, daß ich noch mal zu den Storrs fahren sollte.«
Liebevoll steckte Morse das »Lesende Mädchen« (Perugini 1878) wieder in den Umschlag und überflog noch einmal Sir Peters Brief.
Don Carlos.
Die beiden Worte – am Anfang einer Zeile, vor dem Beginn eines Absatzes – sprangen ihm förmlich in die Augen. Morse kannte die Oper nicht gut, aber da war schon wieder dieses DC. Erstaunlich, wie oft sie im Lauf ihrer Ermittlungen auf diese beiden Buchstaben gestoßen waren. District of Columbia – das letzte DC in der Reihe. Und plötzlich verschmolz in seinem Kopf der Name der Verdi-Oper mit einem Personennamen, den er gerade gehört hatte, das »Don« harmonierte mit dem »Dawn«, das »Carlos« mit Charles.
War etwa bei Dawn Charles (Mrs. oder Miss oder Ms.) der Schlüssel zu dem Geheimnis zu suchen? Waren es ihre Initialen, die auf dem Blatt in dem Aktenordner standen? Die Augen des Chief Inspector funkelten erregt.
»Mr. Julian Storrs wird sich noch ein bißchen gedulden müssen«, sagte er nachdenklich. »Ich komme mit, Lewis. Nach Bicester.«
TEIL SECHS
58
Der beste Lügner ist jener, der mit möglichst wenig Lügen am weitesten kommt.
(Samuel Butler, Truth and Convenience )
Dawn Charles wirkte ein wenig nervös, als sie die Tür
Weitere Kostenlose Bücher