Der Tod ist mein Nachbar
Heimkehr, was?«
»Es ist ja meine eigene Schuld«, sagte sie gepreßt und sah zum Besucherparkplatz hinüber, wo der Jaguar stand.
»Wo waren Sie denn?« fragte Morse.
»Ich bin nicht weggefahren.«
»Sie waren hier in Ihrer Wohnung?«
»Ich bin nicht weggefahren.«
»Warum haben Sie das mit dem Protokoll verschoben?« fragte Lewis, als er über die A34 nach Oxford zurückfuhr.
»Weil ich möchte, daß Sie dabei sind, wenn wir heute nachmittag mit den Storrs sprechen.«
»Was halten Sie von ihr?«
»Nicht sehr stark im Lügen.«
»Dafür eine tolle Figur. Beine bis zu den Achselhöhlen. Damit hätte sie glatt einen Job als Revuegirl im Windmill gekriegt.«
Morse schwieg, und seine Augen funkelten wieder, als Lewis fortfuhr:
»Irgendwo hab ich mal gelesen, daß sie alle von der Größe und der Figur her gleich sein mußten. Die Revuegirls dort.«
»Vielleicht geh ich mal mit Ihnen hin, wenn wir den Fall hinter uns haben.«
»Geht nicht mehr, Sir. Der Laden ist seit Jahren geschlossen.«
Dawn Charles machte die Tür hinter sich zu und ging nachdenklich zurück ins Wohnzimmer. Um ihre Lippen lag ein leises Lächeln.
59
Alles im Leben ist woanders, und man fährt mit dem Wagen hin.
(E. B. White, One Man ’ s Meat )
Lewis parkte rückwärts in die erstbeste Parklücke an der Polstead Road ein, der baumbestandenen Verbindungsstraße von der Woodstock Road nach Jericho, und blieb wartend stehen, bis Morse sich mühsam aus dem niedrigen Beifahrersitz des Jaguar gewunden hatte.
»Haben Sie das schon mal gesehen, Sir?« Lewis deutete auf das runde blaue Schild an der gegenüberliegenden Wand. »In diesem Haus lebte T. E. Lawrence (Lawrence von Arabien) von 1896 bis 1921.«
Morse richtete grunzend den schmerzenden Rücken gerade und murmelte etwas von Ischias.
»Wie wär’s mit einem Schild für Mr. Storrs? ›Hier lebte Julian Sowieso Storrs, Master von Lonsdale von 1996 bis … 1997‹?«
Morse zuckte ungerührt die Schultern.
»Vielleicht nur 1996.«
Sie gingen ein Stück die kurze Straße hoch, deren Häuser alle im gleichen Stil gebaut waren: Steile Giebel, roter Backstein, drei Geschosse, Bruchsteinfassade, Sprossenfenster mit einheitlich weiß gestrichenen Rahmen. Reizvolle, großzügig proportionierte Häuser aus der Zeit der Jahrhundertwende.
»Keine schlechte Wohnlage«, bemerkte Lewis.
Morse nickte. »Sehr kultiviert. Kleine große Häuser, Lewis. Im Gegensatz zu großen kleinen Häusern.«
»Wo liegt der Unterschied?«
»In der Zahl der Badezimmer, glaube ich.«
»Aber wohl nicht in der Zahl der Garagen.«
Nein, das gewiß nicht, denn wenn man genauer hinsah, wurde klar, warum rechts und links am Straßenrand die Autos in langer Reihe geparkt waren. Hier gab es weder Garagen noch den Platz, nachträglich welche zu bauen. Um dieser Schwierigkeit abzuhelfen, waren fast alle Vorgärten zubetoniert, mit Kunst- oder Betonsteinen gepflastert oder gekiest, so daß man Personenwagen dort abstellen konnte. Auf der Kiesfläche vor dem vorderen Fenster der Storrs stand ein kleiner, relativ neuer hellgrauer Citroen, um dessen Karosserie ein schmaler rosa Streifen lief.
»Demnach ist jemand zu Hause«, folgerte Morse.
»Mrs. Storrs vielleicht. Er hat einen BMW. Außerdem ist das ein Frauenauto.«
»Ach ja?«
Morse spähte noch immer durch die vordere Scheibe des Citroen (vielleicht in der Hoffnung, im Innenraum deutlichere Anzeichen von Weiblichkeit zu entdecken), als Lewis zurückkam, der inzwischen vergeblich geklingelt hatte.
»Niemand zu Hause. Jedenfalls rührt sich nichts.«
»Schon wieder auf Wochenendurlaub?«
»Ich könnte mal im Pförtnerhaus fragen.«
»Tun Sie das, Lewis. Ich bin inzwischen …« Morse deutete unbestimmt zu dem Pub am Ende der Straße hin.
Morse saß im Anchor vor einem Pint John Smith’s Tadeaster Bitter, als Lewis wenige Minuten später hereinkam und berichtete, daß die Storrs tatsächlich wieder übers Wochenende weggefahren waren, allerdings hatten sie diesmal ihre Adresse nicht beim Pförtner hinterlegt.
Morse nahm diese Mitteilung kommentarlos zur Kenntnis. Er wirkte zerstreut. Wahrscheinlich sinniert er mal wieder, überlegte Lewis, während er seinen Orangensaft bezahlte. Sinnieren und trinken, sinnieren und trinken – diese Doppelbetätigung bedeutete für den Chief Inspector seit jeher eine untrennbare Einheit. Völlig abwesend aber war er nicht.
»Wenn Sie schon zum Tresen gehen, Lewis – ich nehme noch ein Pint. John
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