Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
Besuch heute.«
Gerade deshalb bestand Marvin darauf. Er ließ von Basti die Taschen nach Lisas Geschenk durchsuchen und steckte es in die Pyjamatasche. Nach Bastis unbeholfenem Abrieb mit einem – wieder mal viel zu nassen – Waschlappen auf seinem Gesicht und dem sorgfältigen Bedecken seines kahlen Kopfes ließ sich Marvin von seinem Bruder zur Toilette durch den Flur helfen.
»Soll ich dir irgendwie helfen?«, fragte Basti unsicher vor der Tür des Bades.
»Verschwinde!«
Marvin schloss die Tür hinter sich. Da stand er nun. Nachdenklich betrachtete er die Badewanne, in der er einst sein Sterben geübt hatte. Wie sehr hatte sich sein Leben seitdem verändert. Wie viele Menschen hatten sich ihm anvertraut, ihm ihre wahren Gesichter gezeigt, ihn enttäuscht oder einfach nur verwundert. So hatte er sich die letzten Wochen nicht vorgestellt. Merkwürdig, wie viel Leben das Sterben begleiten konnte. Jeder Tag konnte eine neue Überraschung bringen, selbst jetzt noch.
Basti klopfte an die Tür. »Ist alles in Ordnung mit dir da drinnen?«
»Alles in Ordnung. Nur die Ruhe!«
Marvin bewegte sich zur Toilette, ließ die Pyjamahose herunter und bemühte sich, trotz Kreislaufschwankungen, richtig zu zielen. Sein Glied war nackt. Sämtliche Haare waren ihm ausgefallen. Von oben herab hatte er einen guten Blick darauf, denn der ehemals leichte Ansatz um seinen Bauch herum war längst verschwunden. Stattdessen sah er seine Beckenknochen, wie die eines magersüchtigen Models. Im Spiegel konnte er sich ganz betrachten und fand dünne Beine mit einem flachen, faltigen Hintern. Sein Hodensack baumelte zwischen den Oberschenkeln herunter.
Marvin seufzte. Da war wirklich nichts mehr, was eine Hose knackig ausfüllen konnte, weder hinten, noch vorne. Sicher nicht das, was eine Frau an einem Mann finden wollte. Arme Lisa!
Nach etwa einer Viertelstunde schleppte er sich mühsam wieder aus dem Bad heraus. Basti nahm ihn in Empfang, ordnete seinen Schlafanzug und legte ihm den Morgenmantel um. Dann schnappte er sich Marvin wie ein Kind und trug ihn mit Leichtigkeit die Treppe hinunter. Der Rollstuhl stand schon bereit und Basti schob Marvin in Richtung Wohnzimmer.
»Danke, Schwester Basti!«, grinste Marvin zu ihm hoch. Basti grinste zurück. Er trug heute mal nicht die Lederjacke, sondern ein nur wenig ausgebeultes Cordjackett.
Schon in der Diele kam ihnen Tobias entgegen gelaufen. Diesmal stoppte sich der Kleine selbst, wahrscheinlich in Erinnerung an den blutigen Ausgang seiner letzten stürmischen Begrüßung mit Marvin.
Basti rief ihm zu: »Mach’ Platz da, Tobias.«
Doch Marvin ließ ihn den Rollstuhl anhalten.
»Na, Tobias? Möchtest du auch mal Rollstuhl fahren?«
Der Kleine nickte heftig, mit leuchtenden, erwartungsvollen Augen. Marvin winkte ihn näher und Basti half ihm, Tobias auf die Oberschenkel zu setzen.
»Jetzt geht es los«, sagte Marvin. »Mal sehen, was Onkel Bastian so drauf hat!«
Er zwinkerte seinem Bruder zu und der gab Gas, so weit das kleine Stück Diele es erlaubte.
Tobias kreischte freudig. »Noch mal!«
Doch sie waren bereits am Wohnzimmer angekommen und wurden von vielen Augenpaaren angestarrt, allen voran Tobias’ Mutter. Marvin erinnerte sich noch sehr genau an ihre Worte im Krankenhaus, die er nicht hören sollte. Nicht mehr der Bruder zu sein, den sie kannte – diese Worte verdammten ihn zu einem Aussätzigen.
»Hallo Ina!«, sagte er. »Deinem Sohn gefällt der Rollstuhl ungemein. Ich werde in meinem Testament an ihn denken. Habt ihr denn genug Platz dafür in seinem Kinderzimmer?«
Marvin streckte ihr seine linke Hand entgegen; die Linke – mit Absicht. Der Arm war nicht mehr so verkrampft wie zuvor, doch immer noch behindert genug. Sie konnte ihn auf keinen Fall ignorieren. Stille beherrschte den Raum. Niemand rührte sich, alle warteten gespannt auf Inas Reaktion, denn wer an ihrer Stelle, wollte schon diese Hand ergreifen? Seine Schwester blickte kurz umher – man wich betreten aus – dann zu Basti, der hinter dem Rollstuhl stand. Der schwieg, wie die anderen.
»Was ist ein Testament?«, fragte Tobias plötzlich.
Ihr Blick fiel auf das Kind und dann wieder auf Marvin, als erwachte sie aus einer Starre. Sie nahm den Kleinen zu sich und dann ergriff sie Marvins Hand, zögernd, doch sie griff zu. Damit hatte Marvin nun nicht gerechnet. Er wehrte sich gegen die Nachsicht, die in ihm hochstieg, doch ihre Berührung tat ihm gut. Ihm war, als strömte etwas Sanftes durch seinen Arm bis in den Kopf
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