Der Tod kommt nach Pemberley: Kriminalroman (German Edition)
wären sie am nächsten Vormittag über die eigentliche Zufahrtsstraße gekommen. Durch den Wald seien sie ja nur gefahren, weil ihr Kommen überraschend erfolgen musste, da Elizabeth sie sonst wahrscheinlich nie ins Haus gelassen hätte. So sei es Elizabeths Schuld, dass sie eine Kutsche mieten und im Green Man übernachten mussten, einem Gasthof, der ihrem und dem Geschmack des lieben Wickham ganz und gar nicht entspreche. Hätte Elizabeth ihnen großzügiger geholfen, hätten sie es sich leisten können, die Nacht von Freitag im King’s Arms in Lambton zu verbringen; dann hätte man ihnen von Pemberley aus eine Kutsche geschickt, die sie zum Ball gebracht hätte, Denny wäre nicht mit ihnen gefahren, und das ganze Unglück wäre nie geschehen. Das alles musste sich Jane anhören, was ihr nur mit Mühe gelang. Wie immer versuchte sie zu beschwichtigen, Geduld anzumahnen und Hoffnung zu machen, doch Lydia gab sich ihrem Kummer bereits viel zu genüsslich hin, als dass sie einem vernünftigen Wort oder Ratschlag noch zugänglich gewesen wäre.
All das war keine große Überraschung. Lydia hatte Elizabeth schon als Kind nicht gemocht, und zwischen zwei so unterschiedlichen Charakteren hätte niemals Sympathie oder große schwesterliche Zuneigung herrschen können. Die wilde, burschikose Lydia mit ihrer vulgären Ausdrucksweise und gewöhnlichen Art, unempfänglich für jeden Versuch, sie zu zügeln, war den zwei ältesten Miss Bennets immer schon peinlich gewesen. Sie war das Lieblingskind ihrer Mutter, deren Wesen dem ihren sehr ähnelte, doch es gab noch andere Gründe für die Feindseligkeit zwischen Elizabeth und der jüngeren Schwester. Lydia vermutete nicht ohne Grund, dass Elizabeth versucht hatte, ihrem Vater einzureden, er solle ihr den Aufenthalt in Brighton verbieten. Kitty hatte erzählt, sie habe gesehen, wie Elizabeth an die Tür zur Bibliothek geklopft und Einlass in das Allerheiligste erhalten habe, was ein seltenes Privileg darstellte, da Mr. Bennet die Bibliothek hartnäckig für das einzige Zimmer hielt, in dem ihm Ruhe und Abgeschiedenheit vergönnt waren. Der Versuch, Lydia ein Vergnügen zu verwehren, auf das sie sich kapriziert hatte, stand auf der Liste der schwesterlichen Verfehlungen ganz weit oben, und so etwas niemals zu vergeben oder zu vergessen war für Lydia eine Frage des Prinzips.
Es gab jedoch einen weiteren Grund für ihre an Feindschaft grenzende Antipathie: Lydia wusste, dass Wickham ihre ältere Schwester einst zu seiner offiziellen Favoritin erkoren hatte. Als Lydia einmal in Highmarten zu Besuch weilte, hatte Jane ein Gespräch ihrer Schwester mit der Haushälterin gehört, und es war wieder einmal ganz die alte, selbstsüchtig handelnde und taktlos vorgehende Lydia gewesen. »Natürlich wird man Mr. Wickham und mich nie nach Pemberley einladen. Mrs. Darcy ist eifersüchtig auf mich, und jeder in Meryton weiß, warum. Sie war hinter Wickham her, als er in Meryton stationiert war, und hätte ihn genommen, wenn sie ihn bekommen hätte. Doch er hat eine andere erwählt – mich Glückliche! Elizabeth hätte ihn ohnehin nicht genommen – er hatte ja kein Geld –, aber wenn er Geld gehabt hätte, wäre sie jetzt Mrs. Wickham, und zwar liebend gern. Sie hat Darcy, diesen grauenvollen, arroganten, missmutigen Mann, doch nur wegen Pemberley und all seinem Geld geheiratet, wie ganz Meryton weiß.«
Dass Lydia ihre, Janes, Haushälterin in die Privatangelegenheiten der Familie einweihte, und die Mischung aus Lügen und Gemeinheiten, mit der die Schwester ihren unbedachten Tratsch verbreitete, hatte Jane veranlasst, noch einmal darüber nachzudenken, ob es klug war, die üblicherweise unangekündigten Besuche ihrer Schwester bereitwillig hinzunehmen, und sie hatte beschlossen, diese Besuche in Zukunft um Bingleys und ihrer Kinder, aber auch um ihrer selbst willen möglichst zu verhindern. Doch einmal würde sie es noch erdulden müssen. Sie hatte versprochen, Lydia nach Highmarten mitzunehmen, wenn sie und Bingley wie geplant am Sonntag Nachmittag von Pemberley abreisen würden; außerdem wusste sie, wie entlastend es für Elizabeth angesichts all der Probleme wäre, wenn sie von Lydias ständigen Forderungen nach Mitleid und Aufmerksamkeit, von ihren unvorhersehbar ausbrechenden Weinkrämpfen und dem unablässigen Gequengel verschont bliebe. Jane hatte sich hilflos gefühlt angesichts der Tragödie, die Pemberley überschattete, doch dieser kleine Dienst war das Mindeste,
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