Der Tod kommt nach Pemberley: Kriminalroman (German Edition)
bei vollem Bewusstsein – so hellwach, als hätte er nur auf diesen Moment gewartet. Er lag gekrümmt auf der Seite und sah durch die fast vollständig geschlossenen Lider, wie der Colonel vor dem Kamin auf und ab ging, so dass er, Darcy, kurzzeitig keine Sicht mehr auf das Feuer, die einzige Lichtquelle im Raum, hatte. Er fragte sich, ob er von dieser Bewegung wach geworden war. Es fiel ihm nicht schwer, sich schlafend zu stellen und durch die halb geschlossenen Lider zu spähen. Der Colonel tastete nach einer Tasche in seiner Jacke, die über dem Sessel hing, entnahm ihr einen Umschlag, zog aus diesem ein Blatt Papier hervor und las, was darauf stand. Dann sah Darcy nur mehr seinen Rücken, eine jähe Armbewegung und das Aufflammen des Feuers. Der Colonel hatte das Blatt verbrannt. Darcy ächzte leise auf und wandte das Gesicht weiter vom Feuer ab. Normalerweise hätte er seinem Cousin gezeigt, dass er wach war, und ihn gefragt, ob er ein wenig Schlaf gefunden habe. Er empfand die kleine Täuschung selbst als unwürdig. Doch der entsetzliche Schreck über den Anblick von Dennys Leiche im fahlen Mondlicht hatte sein Innerstes wie ein Erdbeben erschüttert, ihm den Boden unter den Füßen weggezogen und alle sein Leben seit der Kindheit bestimmenden Annahmen und Gepflogenheiten zertrümmert. Im Vergleich zu jenem zerstörerischen Moment waren das merkwürdige Verhalten des Colonels, sein immer noch nicht erklärter Ritt durch die Nacht und das eindeutig heimliche Verbrennen eines Dokuments zwar nur kleinere Nachbeben, doch auch sie beunruhigten ihn zutiefst.
Er kannte seinen Cousin seit Kindertagen. Der Colonel war immer ein unkomplizierter, jeglicher List und Tücke gänzlich abholder Mensch gewesen. Doch seit er der älteste Sohn und Erbe eines Earls geworden war, hatte er sich verändert. Was war nur aus dem beherzten, unbeschwerten jungen Colonel geworden, aus seiner ungezwungenen, selbstbewussten Geselligkeit, die sich sosehr von Darcys manchmal lähmender Schüchternheit unterschied? Er war doch der umgänglichste und beliebteste Mensch gewesen! Doch schon damals hatte er seine Verantwortung für die Familie, die einem jüngeren Sohn auferlegten Pflichten, sehr ernst genommen. Niemals hätte er eine Elizabeth Bennet geheiratet, und manchmal schien es Darcy, als würde sein Cousin ihm jetzt weniger Respekt entgegenbringen, weil er sein Verlangen nach einer Frau über die Pflichten gegenüber Familie und Stand gestellt hatte. Die Veränderung war gewiss auch Elizabeth nicht verborgen geblieben, obwohl sie vor ihrer Mitteilung, sein Cousin werde demnächst bei ihm um Georgianas Hand anhalten, nie mit Darcy über den Colonel gesprochen hatte. Sie war der Ansicht gewesen, ihn auf dieses Gespräch vorbereiten zu müssen, das natürlich nicht stattgefunden hatte und niemals stattfinden würde, denn in dem Moment, als der betrunkene Wickham über Pemberleys Schwelle gezerrt worden war, hatte Darcy gewusst, dass der Viscount Hartlep sich nunmehr anderswo nach seiner künftigen Countess umsehen würde. Am meisten überraschte ihn jedoch nicht, dass der Antrag niemals erfolgen würde, sondern die Erleichterung darüber, seine Schwester, für die er doch stets so hochfliegende Pläne gehegt hatte, nie der Versuchung ausgesetzt zu sehen, ihn anzunehmen.
Es war nicht verwunderlich, dass die Bürde der künftigen Verantwortung schwer auf den Schultern seines Cousins lastete. Darcy dachte an das imposante Stammschloss, an die sich meilenweit erstreckenden Tagesanlagen über dem schwarzen Gold des Kohlenreviers, an das Herrenhaus in Warwickshire inmitten einer riesigen Fläche fruchtbaren Bodens, und daran, dass der Colonel die Nachfolge einst vielleicht mit dem Gefühl antreten würde, seinen Sitz im Oberhaus nur um den Preis einnehmen zu können, dass er seinen geliebten Beruf aufgab. Darcy hatte den Eindruck, dass sein Cousin sehr diszipliniert versuchte, sein Wesen zu ändern, und fragte sich, ob dies möglich – und ob es klug war. Oder hatte er mit irgendeiner privaten Verpflichtung oder Schwierigkeit zu kämpfen, die in keinem Zusammenhang mit seiner Verantwortung als Erbe stand? Wieder erschien es ihm merkwürdig, wie hartnäckig sein Cousin darauf bestanden hatte, die Nacht in der Bibliothek zu verbringen. Wenn es ihm darum gegangen war, einen Brief zu vernichten, hätte er im Haus genügend befeuerte Kamine und auch einen günstigen Augenblick finden können. Und warum vernichtete er ihn gerade jetzt und so
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