Der Tod kommt nach Pemberley: Kriminalroman (German Edition)
wieder etwas von dem hübschen und charmanten jungen Offizier in ihm zu erkennen, der die jungen Damen von Meryton einst so verzaubert hatte.
Jemand bellte einen Befehl. Schlagartig herrschte Stille im Saal, und der Untersuchungsrichter Jonah Makepeace betrat gemeinsam mit Sir Selwyn den Saal. Nachdem er sich vor den Geschworenen verbeugt hatte, ließ sich Makepeace auf seinem Stuhl nieder und bedeutete Hardcastle, rechts von ihm Platz zu nehmen. Der Richter war ein schmaler Mann mit wächsernem Gesicht, das man bei einem anderen vielleicht für ein Anzeichen von Krankheit gehalten hätte. Er diente schon seit zwanzig Jahren als Untersuchungsrichter und war sehr stolz darauf, mit seinen sechzig Jahren noch bei keiner einzigen gerichtlichen Untersuchung, ob in Lambton oder im King’s Arms, verhindert gewesen zu sein. Er hatte eine lange, schmale Nase, einen sonderbar geformten Mund mit ungewöhnlich voller Oberlippe, und seine Augen unter den dünnen, an einen Bleistiftstrich erinnernden Brauen waren noch immer so scharf wie in seiner Jugend. Als Anwalt mit erfolgreicher Kanzlei genoss er in Lambton und darüber hinaus hohes Ansehen, und da sein Reichtum unaufhörlich wuchs und es viele Klienten gar nicht abwarten konnten, sich von ihm beraten zu lassen, zeigte er sich gegenüber Zeugen, die ihre Aussage nicht kurz und klar formulierten, niemals nachgiebig. Nun warf er einen langen, furchteinflößenden Blick auf die Uhr an der hinteren Saalwand.
Bei seinem Erscheinen waren alle Anwesenden aufgestanden und hatten erst wieder Platz genommen, als er auf seinem Stuhl saß. Die beiden Polizisten belegten Sitze in der ersten Reihe vor dem Podium. Die Geschworenen, die eben noch miteinander geplaudert hatten, nahmen ihre Plätze ein und erhoben sich sofort wieder. Als Friedensrichter hatte Darcy bereits an mehreren gerichtlichen Untersuchungen teilgenommen und sah jetzt, dass man für die Jury die üblichen Honoratioren ausgewählt hatte: George Wainwright, den Apotheker, Frank Stirling, den Inhaber des Kramladens von Lambton, Bill Mullins, den Schmied aus dem Dorf Pemberley, sowie den Bestatter John Simpson, der wie immer seinen schwarzen Traueranzug trug, den er angeblich von seinem Vater geerbt hatte. Der Rest bestand aus Bauern, von denen die meisten erhitzt und aufgeregt in letzter Minute erschienen waren. Den passenden Zeitpunkt, um ihre Höfe zu verlassen, gab es für sie nicht.
Der Untersuchungsrichter wandte sich an den Gefängniswärter. »Sie können jetzt Mr. Wickhams Fesseln lösen. Unter meiner Gerichtsbarkeit hat sich noch kein Gefangener aus dem Staub gemacht.«
Der Anordnung wurde schweigend Folge geleistet. Nachdem sich Wickham die Handgelenke gerieben hatte, blieb er ruhig stehen, ließ nur gelegentlich den Blick wie auf der Suche nach einem vertrauten Gesicht durch den Saal wandern. Während die Geschworenen vereidigt wurden, beäugte Makepeace die Jury mit der skeptischen Eindringlichkeit eines Mannes, der den Kauf eines Pferdes von unklarer Qualität erwägt. Dann sprach er seine Eingangsworte. »Wir sehen uns nicht zum ersten Mal, Gentlemen, und ich denke, Sie kennen Ihre Pflicht, welche darin besteht, die Zeugenaussagen aufmerksam zu verfolgen und sich ein Urteil über die Ursache des Todes von Captain Martin Denny zu bilden, dessen Leiche gegen zehn Uhr nachts am Freitag, dem 14. Oktober, im Wald von Pemberley entdeckt wurde. Sie befinden sich hier nicht in einem Strafprozess und sollen auch die Polizei nicht darüber belehren, wie sie ihre Ermittlungen anzustellen habe. Was die in Frage kommenden Ursachen betrifft, so sollten Sie bedenken, dass es sich nicht um einen Unfalltod handeln kann und man sich auch nicht das Leben zu nehmen vermag, indem man sich selbst einen heftigen Schlag in den Nacken versetzt. Dies könnte Sie logischerweise zu dem Schluss führen, dass wir es hier mit einem Tötungsdelikt zu tun haben, was Ihnen die Wahl zwischen zwei Entscheidungen ermöglicht. Wenn sich der Schuldige aufgrund der Beweislage nicht finden lässt, werden Sie auf vorsätzliche Tötung durch eine oder mehrere unbekannte Personen erkennen. Ich habe Ihnen nun die Möglichkeiten aufgezeigt, muss aber hervorheben, dass die Entscheidung über die Todesursache allein bei Ihnen liegt. Sollten Sie aufgrund der Indizien zu der Überzeugung gelangen, die Identität des Mörders zu kennen, so müssen Sie ihn beziehungsweise sie benennen. Der Täter oder die Täterin kommt dann wie üblich in
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