Der Tod kommt wie gerufen
Fallformulars aus.
Geschlecht: weiblich.
Abstammung: negroid (mit möglicher kaukasoider Beimischung).
Alter: vierzehn bis siebzehn Jahre.
Mein Gott. Noch ein Kind.
Ich starrte in die leeren Augenhöhlen und versuchte, mir vorzustellen, wer diese junge Frau gewesen war. Empfand Trauer über den Verlust. Ausgehend von den schwarzen Mädchen, die ich aus meiner Umgebung kannte, konnte ich mir eine ungefähre Vorstellung ihres Aussehens machen. Freundinnen von Katy zum Beispiel. Meine Studentinnen. Die Mädchen, die im Park auf der anderen Seite der College Street herumhingen. Ich konnte mir dunkle Haare und Augen vorstellen, schokoladenfarbene Haut. Aber was hatte sie empfunden? Gedacht? Was für ein Ausdruck hatte ihre Gesichtszüge geformt, wenn sie am Abend einschlief und am Morgen aufwachte?
Vierzehn bis siebzehn. Halb Frau, halb Mädchen. Hatte sie gern gelesen? War sie gern Rad gefahren? Oder auf einer Harley? Hatte sie sich in Einkaufszentren herumgetrieben? Hatte sie einen festen Freund? Wer vermisste sie?
Hatte es in ihrer Welt Einkaufszentren gegeben? Wann starb sie? Wo?
Tu, was du immer tust, Brennan. Finde heraus, wer sie war. Was mit ihr passierte .
Ich schob die gefühlsbetonten Gedanken beiseite und konzentrierte mich wieder auf die Wissenschaft.
Die nächsten Kästchen auf dem Formular fragten nach PMI und TA.
Postmortales Intervall und Todesart.
Bei trockenen Knochen, ohne jede Anhaftung von Fleisch oder anderen organischen Komponenten, kann die Bestimmung der Zeit seit Eintritt des Todes noch schwerer zu bestimmen sein als die Rasse.
Sanft hob ich den Schädel mit einer Hand, um sein Gewicht zu schätzen. Der Knochen sah solide aus und fühlte sich auch so an,
nicht porös oder degradiert wie Überreste aus alten Friedhöfen oder archäologisches Material. Alle sichtbaren Oberflächen waren einheitlich teebraun verfärbt.
Ich suchte nach kulturellen Veränderung, etwa Zahnfüllungen, Schädelabbindung, Hinterkopfabflachung oder chirurgische Bohrlöcher. Nichts dergleichen.
Ich suchte nach Hinweisen auf eine Sargbestattung. Der Schädel wies keine Spuren von Bestattungsartefakten wie etwa Modellierwachs, Trepanation oder Augendeckel auf. Keine Fäden oder Gewebefetzen. Kein einbalsamiertes Gewebe, kein Abblättern der Knochenrinde, keine Kopf- oder Gesichtshaare.
Ich leuchtete mit einer kleinen Stablampe in das Foramen magnum, das große Loch am Hinterkopf, das die Verbindung zwischen Rückenmark und Gehirn ermöglicht. Bis auf anhaftende Erde war das Innere der Öffnung leer.
Mit einem Zahnstocher kratzte ich die Krumen im Schädelinneren weg. Auf dem Rollwagen bildete sich ein kleiner Kegel. Die Erde glänzte zwar etwas mehr, sah aber ansonsten der in dem Kessel sehr ähnlich. Ich fand eine Rollassel, ein Puppengehäuse, aber keine Pflanzeneinschlüsse.
Weiter mit dem Zahnstocher arbeitend, kippte ich den Schädel und säuberte die Nasen- und Ohröffnungen. Noch mehr Erde rieselte auf den Kegel.
Schließlich füllte ich die Schädelerde, die Assel und das Puppengehäuse in einen Ziploc-Beutel und schrieb die MCME-Fallnummer, das Datum und meinen Namen außen auf das Plastik. Es konnte gut sein, dass die Probe nie untersucht wurde, aber sicher war sicher.
Mit einem Skalpell hob ich nun Fragmente des Schädelwachses oben auf dem Schädel ab und steckte sie einen zweiten Beutel. Abgeschabte Fragmente des »Blut«-Flecks kamen in einen dritten.
Dann wandte ich mich wieder den Röntgenaufnahmen zu. Langsam arbeitete ich mich durch die Aufnahmen von vorne, von
der Seite, von hinten, von oben und von unten, die Hawkins mir geliefert hatte.
Der Schädel zeigte keine Spuren von Verletzungen oder Krankheit. Keine Metallspuren, die auf eine Schussverletzung hinweisen würden. Keine Brüche, Kugeleintritts- oder -austrittslöcher, keine von einem scharfen Gegenstand verursachten Schnitte. Keine Läsionen, Defekte oder angeborenen Anomalien. Keine Implantate, keine Hinweise auf kosmetische oder korrigierende Operationen. Kein Indikator, was die medizinische oder zahnmedizinische Geschichte des Mädchens betraf. Kein Hinweis auf die Ursache ihres Todes.
Frustriert untersuchte ich sowohl den Schädel wie die Röntgenaufnahmen unter Vergrößerung.
Nichts. Der Schädel war auffällig unauffällig.
Entmutigt ging ich im Geiste die Methoden für eine PMI-Schätzung bei trockenen Knochen durch. Ultraviolette Fluoreszenz, Färbung auf Indophenol oder Nilblau, Überschall-Leitfähigkeit,
Weitere Kostenlose Bücher