Der Tod macht Schule: Bröhmann ermittelt wieder (German Edition)
drohende Umarmung sein soll, würde ich mich in diesem Falle mal für Krieg entscheiden. Doch zu spät, Wolles wolliger Körper klebt bereits an mir. «O.k., Schwamm drüber», mümmele ich verlegen und schiebe ihn vorsichtig wieder auf Distanz. Dann dreht er sich um, schaut gen Himmel, macht wieder «Uuuhuu» und geht.
Das letzte Mal, dass ich ein Zelt aufbauen musste, war 1986, Osterfreizeit des Handballvereins. Dann flog am zweiten Tag Tschernobyl in die Luft. Wir fuhren nach Hause und schlossen die Fenster.
Jetzt stehe ich hilflos mit diesen albernen Heringen in der Gegend rum und traue mich nicht zuzugeben, dass ich kein Zelt aufbauen kann.
Wolles und Mollis Zelt steht schon. Es ist so groß wie ein Einfamilienhaus. Molli ist die Lebensgefährtin von Wolle, sie sieht genau wie er so aus, wie sie heißt, und stellt dreibeinige Sitzhocker ohne Lehne in den Eingangsbereich. Dazu einen Tisch und einen Gaskocher. Wolle versucht auf der Wiese ein Rad drehen, bricht aber in halber Drehung ab und hält sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Rücken.
Ich pikse einfach einen Hering in die Wiese und gucke mal, was passiert. Nichts, stelle ich schnell fest. Franziska müsste jeden Moment mit den anderen Mitmüttern und Kindern vom Einkauf zurück sein. So setze ich mich auf die feuchte Wiese, krame eine der Luftmatratzen heraus und fange an, sie aufzupusten. Luftmatratze als Unterlage war Bedingung. Zwei Dinge habe ich mir nämlich für mein Leben vorgenommen. Niemals auf einer Feier bei einer Polonaise mitmachen und niemals nachts auf einer Isomatte liegen müssen. Nachdem ich fünfmal in die Luftmatratze reingeblasen habe, wird mir schwarz vor Augen, und ich brauche eine Pause. Ich blicke zu Wolles und Mollis Luxusdomizil und sehe, wie sie rittlings auf ihm hockend seinen Rücken massiert. Schnell schaue ich weg.
«Moin, moin», sagt dann plötzlich Ilja Richter zu mir. «Wir kennen uns noch gar nicht, ne?» Ich drehe mich um und blicke in ein von blonden Haaren umrahmtes, lächelndes Männergesicht. «Ich bin die Schlampe», sagt er. Ich glaube, ich verkrafte das Ganze nicht. Setzt mir das Zelten jetzt schon so zu, dass mir blonde Männer erscheinen, die wie Ilja Richter reden und «Schlampe» heißen? Der Mann reicht mir seine Hand.
«Ich bin Henning», stelle ich mich vor.
«Wir sind sozusagen eure Nachfolger. Unser Noel übernimmt nach den Sommerferien euren Platz. Wolle hat uns zum Kennenlernen schon mal eingeladen», sagt Schlampe und wirft einen kritischen Blick auf meinen Zelthaufen. «Kann ich dir beim Aufbauen helfen?»
Mein erster Impuls ist, diese Frage zu verneinen. Aber besser, ich nehme die Chance wahr, schnell zu einem aufgebauten Zelt zu kommen. Schlampe trägt komplett Weiß. Eine weite Leinenhose und ein weißes luftiges Hemd mit Bändchen in der Mitte. Als wir das Zelt aus dem «Seesack» herausziehen, lacht er laut und klingt wieder wie Ilja Richter. Vermutlich ist er Zeltkenner und hat sofort gesehen, dass dieses Modell seit dem Mauerfall nie mehr aufgebaut wurde. Ich suche hektisch nach weiteren Heringen, da höre ich Ilja Richters Stimme: «In der Ruhe liegt die Kraft.» Gütig lächelt er mich an. Nach zehn Minuten ist mit Schlampes Hilfe das Zelt aufgebaut, und ich frage mich, wie wir in diesem Dingelchen zu dritt Platz finden sollen.
«Danke für die Hilfe, äh, sorry, ich hatte deinen Namen vorhin nicht ganz verstanden», sage ich. «Die Schlampe» antwortet er daraufhin wieder. «Ist auch nicht so einfach» ergänzt er. «Ist ja auch nicht mein ursprünglicher Name. Ich habe einen neuen Namen angenommen. Dsche steht für ‹Der Besondere› und Champa für ‹Liebend›. Dsche Champa. Ist aus dem Buddhistischen. Nenn mich einfach Champa.»
Dann kommen die Frauen mit den Kindern zurück. Laurin stürmt auf uns zu und bleibt vor unserem kümmerlichen Zelt stehen. Seine Augen wandern zu den modernen Konstruktionen unserer Nachbarn; er kann seine Enttäuschung nicht verhehlen. Meine Bemerkung «Da hat dein Papa schon drin geschlafen, als er so alt war wie du» erzielt auch nicht die gewünschte Wirkung.
Nun folgt endlich ein männlich besetzter Programmpunkt, mit dem ich klarkomme: Fußball. Sechs gegen sechs. Wolle steht bei uns im Tor. Schlampe spielt mit Laurin in der gegnerischen Mannschaft.
Gleich zu Beginn werde ich vom sechsjährigen Mücahit getunnelt. Ich tue so, als hätte ich es mit Absicht zugelassen, und wünsche mir schon jetzt, dass er sich in zwölf Jahren für die
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