Der Tod macht Schule: Bröhmann ermittelt wieder (German Edition)
schlage ihr dabei versehentlich leicht auf den Hinterkopf. Gregor Assmann hält kurz inne, blickt verwirrt erst zu Stefanie, dann zu mir, ehe ich mich vom Sofa erhebe und ihm zur Begrüßung sachlich und kriminalkommissarisch die schwitzige Hand reiche.
«Henning ist wirklich eine große Hilfe. Er engagiert sich sehr für Lasse», versucht Stefanie etwas bemüht die vorgefundene Nähe zu rechtfertigen. Sie versucht zu verdeutlichen, dass ich eine Art Freund für sie sei.
Gregor Assmann bewegt sich Richtung Küche, ruft: «Noch jemand ein Bier?», und öffnet den Kühlschrank.
Ich verneine dankend und mache mich stattdessen auf den Weg nach Hause.
Hi Lasse, hab dich eben auf schüler vz gefunden. Bei Facebook bist du wohl nicht. Du weißt aber schon, dass svz keine Sau mehr hat, oder? Das ist dir wahrscheinlich so was von egal im Moment, oder? Du wunderst dich bestimmt voll, dass ich dir schreibe. Wir ham ja nicht wirklich viel so miteinander zu tun. Mich beschäftigt das, dass du das gewesen sein sollst, mit den Anschlägen gegen die Murnau und so. Ich weiß auch nicht so genau, warum ich dir schreibe. Aber ich kann mir denken, dass keiner mehr was mit dir zu tun haben will. Und das finde ich scheiße. Irgendwie will ich dir sagen, dass ich das nicht glaub, dass du das warst. Das will mir nicht in die Birne gehen. Wenn du willst, schreib mir. Egal was
Denk aber nicht, dass mein Dad da was mit zu tun hat. Dass ich was für ihn aus dir rauskriegen oder dich aushorchen soll. Das schwör ich!!!
Du tust mir voll leid, LG Melina
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27. Kapitel
A lles geht ja so schnell.
Aus einem Telefon mit Wählscheibe wurde in ein paar mickrigen Jahren ein Smartphone, mit dem man bis auf Autofahren und Geschlechtsverkehr alles machen kann. Aus der Schreibmaschine wurde ein Computer mit Drahtlos-Highspeed-Internetzugängen, aus Tankstellen Kaufhäuser bzw. Bäckereien, aus drei Fernsehprogrammen wurden 17563.
Und: «Aus der Kinner werden Leut», wie man hier im Vogelsberg zu sagen pflegt. Melina hat inzwischen mit Kind-Sein so viel zu tun, wie ich mit einem etwaigen dringenden Wunsch, am Wochenende die Monster-Truck-Show in Schotten zu besuchen, und Laurin, der gestern noch in Windeln schiss, wird in ein paar Monaten eingeschult. Ich selbst wurde vor kurzem noch in Gießener Kneipen studentisch geduzt, nun würde ich ausschließlich bei «Alten Herren» Sport treiben. Die Zeit, der Fortschritt, alles rast, und man selber bekommt eine Zerrung beim Versuch mitzuhalten.
Doch manchmal bleibt die Zeit einfach stehen. So wie gerade.
Ich bin mit Laurin auf der Gießener Herbstmesse, gelegentlich auch Kirmes oder Jahrmarkt genannt. Ich hatte es ihm versprochen. Und so fuhren wir hin, obwohl ich weder Lust noch Zeit hatte.
Kaum angekommen schreit mich schon ein verwachsener, durch Alkoholsucht gesichtsgeröteter Mann an. Laurin und ich zucken zusammen. «Lose!!! – Kaum Nieten!!!», kreischt er.
Mir scheint, als sei es der identisch gleiche Mann gewesen, der meinen Vater vor dreißig Jahren beplärrte und vor dem ich als kleiner Knirps immer solche Angst hatte. Auch der Loseimer und diese zusammengetackerten Papierschnipsel … alles genau wie damals.
Er brüllt wieder: «Hallo, junger Mann, kaufe Se Lose!!!»
Ich lehne zögerlich ab, freue mich aber über das «junger Mann», das ich in letzter Zeit immer seltener zu hören bekomme.
«Mache Se Ihrem Kind doch mal ’ne Freude!!!», befiehlt er mir nun mit strengem Gesicht. Ich gebe nach, fühle mich wie sieben und kaufe für Laurin eine Handvoll Lose, natürlich alle mit der Inschrift «Leider verloren!».
Dann werden Dosen geworfen und Autos gescootet. Ich beobachte eine aufgebrachte Mutter, die sich beim Mann an der Kasse lautstark beschwert, ihr Sohn sei beim Autoscooten von Jugendlichen gerammt worden. Außerdem würden die in der falschen Richtung fahren und auch «Rechts vor Links» nicht beachten. Der verlebte Mann an der Kasse blickt sie nur verständnislos an. Die Chip-Einsammler, die einarmig lenkend stehend die Scooter einparken, sind noch immer genau so lässig wie damals. Und auch die kleinen dunkeläugigen Jungs, die ihren Papas beim drögen Pony-im-Kreis-Reiten helfen müssen, gucken immer noch so traurig wie in den 1970er Jahren. Ich bin mir inzwischen sicher, es müssen dieselben Menschen von damals sein und wahrscheinlich auch dieselben von vor hundert Jahren. Wenn man auf einem Jahrmarkt arbeitet, altert man nicht in Würden, sondern
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