Der Tod meiner Schwester
“Ich bin nur müde.”
Ich wollte sie nicht allein lassen, wusste aber nicht, was sich sonst tun sollte.
“Möchtest du, dass ich eine Weile hierbleibe?”, fragte ich durch die Tür. “Ich könnte dir etwas zu essen machen oder –”
“Du brauchst nicht zu bleiben, Julie. Ich werde ein bisschen schlafen. Mach dir keine Sorgen um mich.”
“In Ordnung.”
Ich machte ihr einen Thunfischsalat und hinterließ ihr einen Zettel auf dem Tisch, dass er im Kühlschrank stand. Ich wusste nicht, was ich sonst noch tun konnte. Ich fühlte mich hilflos.
Ich kam nach Hause und setzte mich an den Computer. Als ich meine E-Mails abrief, fand ich viele Schreiben von Fans, die sich in den letzten paar Wochen angesammelt hatten. Doch ich besaß nicht die nötige Konzentration, um sie zu beantworten, und war nicht sicher, wann sich das ändern würde. Ich starrte auf die Mails und überlegte, ob ich einen neuen Versuch mit Kapitel vier starten sollte, aber ich wusste, ich würde es nicht tun. Eine Geschichte über Granny Fran zu schreiben, eine Frau, die es außerhalb meiner Vorstellung gar nicht gab und deren blödes Leben aus blöden Kriminalfällen bestand, die auf dreihundert blöden Seiten gelöst wurden, schien mir im Moment völlig sinnlos zu sein.
Ich starrte noch immer auf die Mails, als es an der Vordertür klopfte.
“Mom?”, rief Shannon, und ich verspürte lang ersehnte Freude. Ich hatte sie so sehr vermisst.
“Hier drin”, rief ich.
Sie kam in mein Büro und setzte sich auf das Sofa. “Tut mir leid, wenn ich dich beim Arbeiten störe.”
“Ach, Liebes”, meinte ich. “Du störst doch nie.” Wir wussten beide, dass das nicht stimmte. Ich hatte die Regel aufgestellt, dass ich beim Schreiben nur im Notfall gestört werden durfte. War das einer von vielen Bereichen, in denen ich versagt hatte?
“Es gibt da etwas, worüber ich mit dir reden muss”, eröffnete sie mir. Sie sah mich aus ihren dunklen Augen mit den langen Wimpern an, lächelte aber nicht.
“Du klingst ernst”, stellte ich fest. Plötzlich verstand ich, wie sich meine Mutter vor ein paar Stunden gefühlt hatte, als ich ihr sagte, dass ich mit ihr reden müsste.
“Ja.” Sie wandte den Blick ab, um auf ihre Hände zu schauen. Sie hielt sie im Schoß zusammengepresst, sodass die Knöchel weiß hervortraten. “Es tut mir wirklich, wirklich leid, was ich dir jetzt sagen werde, weil ich weiß, wie sehr es dich enttäuschen wird …”
“Was ist los, Shannon?” Ich versuchte zu erraten, worauf sie hinauswollte. Wollte sie bei Glen wohnen bleiben, wenn sie in den Ferien nach Hause kam? Hatte sie ihre Meinung wegen Oberlin geändert und wollte nun auf ein anderes College? Auf ihre folgenden Worte war ich nicht vorbereitet, weil sie fern von allem lagen, was ich mir vorstellen konnte.
“Ich bin schwanger.”
Ich war konsterniert. Völlig konsterniert. “Du … du hast dich doch mit niemandem getroffen”, stammelte ich.
“Doch, habe ich”, stellte sie klar. “Ich habe in den Frühjahrsferien jemanden kennengelernt, obwohl ich ihn eigentlich schon seit einigen Monaten über das Internet kannte.”
Oh nein
, dachte ich.
“Er kommt aus Colorado und war hier, um Freunde zu besuchen. Er und ich blieben über E-Mail und Telefon in Kontakt, und ich liebe ihn.” Sie lächelte und zuckte die Achseln.
Ich weiß nicht, wie sie mein Schweigen empfand. Ich erwog meine Antwort sorgfältig, aus Angst, sie mit dem geringsten falschen Wort zu verschrecken. Ich setzte mich neben sie auf das Sofa und nahm ihre Hände in meine. Sie waren eiskalt.
“Es tut mir so leid”, sagte ich. “Das muss eine sehr schwierige Zeit für dich sein.” Es war das Beste, was ich tun konnte. Ich würde ihr meine Unterstützung anbieten, ganz gleich, wofür sie sich entschied. Ich konnte verstehen, wenn eine Frau sich am Anfang ihrer Schwangerschaft für eine Abtreibung entschied – unter gewissen Umständen. Also würde ich diese Entscheidung Shannon überlassen, würde sie die Erwachsene sein lassen.
Meine Reaktion schien sie zu überraschen. “Danke”, sagte sie.
“Hast du es gerade erst erfahren? Weißt du, wie weit du schon bist?”
“In der achtzehnten – fast neunzehnten – Woche.”
“Oh, mein Gott”, entfuhr es mir, als ich begriff, dass es für eine frühe Abtreibung im ersten Schwangerschaftsdrittel zu spät war. “Du … Versuchst du etwa, zu entscheiden, dass du …”, stammelte ich, doch sie unterbrach mich.
“Ich werde das
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